Marlin Schwerdtfeger: Café Saratoga
Polen, Mitte der Achtziger Jahre: Jeden Sommer besuchen die beiden Schwestern Sonja und Majka ihren Vater auf der Halbinsel Hel in der Danziger Bucht. Kazik Herrmann, deutschstĂ€mmiger Pole und im folgenden immer liebevoll Tata genannt, betreibt dort das CafĂ© Saratoga ,eine eher triste Spelunke. Doch fĂŒr die beiden Teenager wird es der Mittelpunkt der Welt. Hier beobachten sie Land und Wasser, Wolken und Menschen, hier tun sie die ersten Schritte in die PubertĂ€t. Ein vordergrĂŒndig heiteres Sichtreiben-Lassen,, das zunĂ€chst an die Kindheitsidyllen bei Astrid Lindgren erinnert. Doch das polnische BullerbĂŒ zeigt bald Risse. Die Eltern sind lĂ€ngst geschieden, die Mutter eine depressive, nörgelnde Person, die auf ihre Vergangenheit fixiert ist, sich weder von ihrem verheirateten Geliebten noch vom Exmann lösen kann. Der Vater ist ein Suffkopp und unverbesserlicher Frauenheld, der seine Kellnerinnen schwĂ€ngert und das CafĂ© zeitweise zum Puff umfunktioniert. Tatas VitalitĂ€t und sein schlitzohriger Charme wirken unwiderstehlich auf seine Umwelt- und auf Sonja, aus deren Perspektive das Ganze erzĂ€hlt wird. So erklĂ€rt sich auch die abgöttische Liebe, die das MĂ€dchen ihrem Vater entgegenbringt, aus dem Kontrast zwischen der trostlosen Mutter und dem stets zu VerrĂŒcktheiten aufgelegten Vater, zwischen der grauen AlltagsrealitĂ€t in Gdingen und der sorglosen Ferienwelt. Doch zwischen den Zeilen erkennt der Leser, viel frĂŒher als Sonja, die AbgrĂŒnde: Tata ist auch ein Macho, der seine Exfrau immer noch âSekretĂ€rinâ nennt, der jeder, die ihm nahesteht, mit seiner Egomanie erdrĂŒckt. Sein Traum ist die Ausreise nach Westdeutschland, das er schlicht âBundesâ nennt. Bundes wird zum Land der VerheiĂung, und als kurz vor dem Fall der Mauer die Ausreisebestimmungen gelockert werden, bricht er mit einem Touristenvisum gen Westen auf. Die Restfamilie zieht nach. Tata ist zunĂ€chst Arbeiter bei Mercedes, wird entlassen, nimmt andere Jobs an, die er bald wieder verliert, weil er zu viel klaut. Er wohnt in einem schĂ€bigen Sozialbau in Bremen, wo es im Aufzug nach Erbrochenen stinkt. Seine freie Zeit verbringt er vorzugsweise in der bunten Welt der Bau-und DiscountmĂ€rkte. Fest entschlossen, sich den Traum von âBundesâ nicht vermiesen zu lassen, nimmt er sogar eine Stelle als Putzmann bei einem Zahnarzt im heimelig-groĂbĂŒrgerlichen Kunsthandwerkerdorfidyll Worpswede an...
FĂŒr die MĂ€dchen bedeutet der Umzug Abschied vom âParadiesâ der Kindheit, Neuorientierung in einem fremden Land, Erwachsenwerden und Lösung vom Vater. WĂ€hrend die Mutter immer tiefer in Depressionen versackt, gelingt es Sonja mit Hilfe ihrer neuen Freundin Jane, sich allmĂ€hlich zurechtzufinden. Doch es bleibt eine gewisse Sehnsucht nach der alten Heimat, auch wenn diese am Ende als Illusion erkannt wird. Als die beiden jungen Frauen nach der Ăffnung der Grenzen erneut nach Polen aufbrechen, ist das CafĂ© Saratoga nur noch ein Ort der Erinnerung.
Ăhnlich wie in ihrem ErzĂ€hlband âLeichte MĂ€dchenâ bedient sich die Autorin auch hier eines eigenwilligen, poetischen ErzĂ€hlstils, der Menschen und Dinge fĂŒr den Leser sinnlich erfahrbar macht und seine Phantasie beschĂ€ftigt. Was aber in den ErzĂ€hlungen sehr bunt und leichtfĂŒĂig wirkt, flieĂt im Roman zuweilen etwas trĂ€ge dahin. Das Leben, ein Road-Movie, immer unterwegs (viele Abschnitte finden im Auto statt) Die Fixierung auf âTataâ, den man laut Klappentext âeinfach lieben muĂâ fand ich oft schwer verdaulich- auf solche urigen Vollblutmachos stehe ich nicht. Doch alle Figuren sind glaubwĂŒrdig und lebensnah- Schwerdtfeger, die nie in Polen gelebt hat, hat offenbar sehr genau im Aussiedlermilieu recherchiert. Und es ist ihre unverwechselbar schöne, leichte und immer von feiner Ironie durchsetzte Sprache, die dieses Buch trotz einiger SchwĂ€chen lesenswert macht.
Marlin Schwerdtfeger: Café Saratoga .
Verlag Kiepenheuer & Witsch, August 2001.
288 Seiten, gebundenes Buch.
Susanne Tank
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