Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
Auch das dritte Buch von Judith Hermann nach „Sommerhaus später“ und „Nichts als Gespenster“ besteht wieder aus einzelnen Erzählungen. Diesmal sind es fünf, und die Hauptfigur Alice verbindet sie miteinander. Alice ist eine Frau um die vierzig und lebt in Berlin. Zentrales Thema aller Geschichten ist der Tod eines vertrauten Menschen und was mit den Zurückbleibenden passiert, wie man Abschied nimmt, wie sich Erinnerungen an ganz banale Alltäglichkeiten wie der vertrocknete Rest eines Gebäckstücks in einer alten Tüte in der Jacke des Verstorbenen ins Gedächtnis brennen.
Jede Erzählung trägt den Namen des Toten. In der ersten ist es Micha, der Mann einer Bekannten von Alice, mit dem sie vor langer Zeit zusammen war. In der zweiten reist sie mit ihrer Freundin Anna zum Gardasee, dort liegt Conrad, ein älterer Mann, im Krankenhaus. Die dritte Geschichte um Richard wiederholt dieses Schema. Erst die letzten beiden Episoden habe ich als wirklich interessant empfunden. Da trifft Alice Friedrich, einen alten Mann, der einst der Lebensgefährte ihres Onkels Malte war, der sich in den Sechziger Jahren das Leben genommen hatte. Und zuletzt stirbt Alices Mann Raymond, hier ist sie selber betroffen, wandert durch die Stadt, glaubt überall, ihren Mann zu sehen, hängt Erinnerungen nach. Als Leser spürt man diese Mischung aus Melancholie und Verlorenheit, und trotz des eher tragischen Themas liegt gerade darin eine gewisse Schönheit, die durch Hermanns lakonische und klare Sprache mit lyrischen Zwischentönen mitgetragen wird. Sie fängt detailgenau Situationen und Stimmungen ein, selbst in den Geräuschen eines Schwimmbades oder einer vorbeifahrendes S-Bahn liegt Poesie.
Manchmal allerdings bleibt mir vieles zu nebulös. So erfährt der Leser wenig über die Verbindung von Alice zu machen der Toten, auch die Ursache des plötzlichen Todes von Raymond bleibt im Dunkeln, Alice bewegt sich fast schlafwandlerisch ungerührt durch diese Szenerien, Begegnungen bleiben vage, auch vom Inhalt der Briefe, die Malte hinterlassen hat, erfährt der Leser nichts.
Ein sprachlich sicheres und schönes Buch, in dem der Schwerpunkt auf der Stimmung des Abschieds liegt, das aber auch vieles im Dunkeln lässt.
Judith Hermann: Alice. Erzählungen.
S. Fischer, Mai 2009.
190 Seiten, Hardcover, 18,95 Euro.