Michael Jürgs: Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden
Vor ein paar Jahren hatte ich Gelegenheit bei einer Gedenkveranstaltung zum hundertsten Geburtstag von Herbert Wehner (2006), dem SPD Urgestein, ein paar Lieder zu spielen. Als Gastredner war Hans Jochen Vogel eingeladen. Damals auch schon stolze achtzig Jahre. Die SPD befand sich schon mitten im Niedergang - hatte ureigene Aufgaben an die Grünen und an die Linke abgegeben und war noch nicht ganz auf dem Weg zur Splitterpartei, so wie heute. Dieser Hans Jochen Vogel zog eine gesellschaftspolitische Bilanz, das den Schröders, Steinmeiers und Müntefering, die Ohren gewackelt hätten, wenn sie da gewesen wären.
Vor mir stand ein hoch gebildeter Sozialist, der aber alt war/ist und keine Repressalien zu fürchten hatte. Kein Parteiausschluss oder sonst irgendeine Entlassung. Eben "elder statesman". Und hier komme ich zu meinem Vergleich mit dem vorliegenden Buch "Seichtgebiete" (warum wir hemmungslos verblöden) Vorab: jeder, der noch ein wenig Grips im Schädel hat und noch nicht wirklich weiß, was medial abgeht, muss dieses Buch lesen. Jürgs hat selbst keine Hemmungen mehr, jetzt im Alter von 64 Jahren, mit gesichertem Einkommen - z.B. als ehemaliger "Stern" Chefredakteur -, uns alles um die Ohren zu hauen. Dabei scheint das vordergründig lustig, wenn er sich über die Blöden hermacht, die Hartz 4 gestrandeten und sonstigem menschlichen Leergut. Die Seichtgebiete werden erobert von Primaten wie Mario Barth, Cindy aus Marzahn, etc. und dem ganzen Blödelrudel von Moderatoren und "Sendungen" oder besser Prollformaten, der Privaten. Michael Jürgs hat überhaupt keine Skrupel mehr, denn wahrscheinlich hat er auch die Altersweisheitsmütze auf und ist deshalb unangreifbar.
Aber egal: kein Sozialgeschwafel mehr von "das Sein bestimmt das Bewusstsein" oder sonstige soziologische Plattitüden. Wer blöd ist, ist eben blöd. Und das Fernsehen macht aus den Blöden noch Blödere. Herrlich die Kapitel -Überschrift "Kante statt Kant". Was sich da vor unseren gepflegten Vorgärten zusammenrottet, ich will es eigentlich gar nicht wissen, muss ich aber. Die mediale Dynamik ist unglaublich, die Grundschulen gefüllt mit Resignation und Verwahrlosung, ein Rad das sich nicht mehr zurück drehen kann. Mit big brother fing das Elend an öffentlich zu werden, natürlich gab es vorher schön genug Blödheit, aber seit dem Beklopptheit im Fernsehen angesagt ist, und man auch nur noch so selbst mal kurz ins Fernsehen kommen kann, und man eine sms auf dem Handy findet, "Boah, geil, isch habdisch im Fernsehn gesehn, super", ist der Drops gelutscht.
Höhepunkt des Buches ist ein (leider) fiktives Tribunal im deutschen Bundestag. Thema: Wer ist Schuld an der allgemeinen Verblödung? Und alle sind da: Bohlen, Klum, Barth, Schrowange, ach, was weiß ich, eben alle, die an dem Elend mit schuldig sind, weil sie "mit"- machen. Und darauf kommt es an. So schlimm es sich anhört, und wie durcheinander der Text auch manchmal daher kommt, es ist ein Hilfeschrei nach einer Kulturrevolution. Leider ist das Wort schlimm besetzt, aber ich werde mich bemühen, es zu ersetzen, mit gleichem Inhalt und weiter gegen Verblödung ankämpfen, in dem ich z.B. meine Tochter bitte, doch Lehrerin zu werden. Die letzten Guten müssen dahin, adäquat bezahlt werden, also wie heute Studienräte, die es bei weitem nicht so schwer haben. Das Buch ist so was wie eine letzte Warnung. Unbedingt lesen und dem Autor ein paar unüberlegte Gedanken verzeihen.
Michael Jürgs: Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden.
Bertelsmann, Juli 2009.
256 Seiten, Hardcover, 14,95 Euro.