Das mit 328 Seiten dickste Buch unseres Verlagsprogramms ist die Vampiranthologie "Ganz schön bissig ..." - die 33 besten Geschichten aus 540 Einsendungen.
Wir schreiben das Jahr 1998. Ganz Amerika zerreißt sich den Mund über die Clinton-Lewinsky-Affäre. Der Präsident darf im Amt bleiben. Nicht so Coleman Silk, angesehener Professor für Altphilologie an der Universität Athena im Osten der USA. Halb im Scherz hatte er zwei Studenten, die permanent seine Seminare schwänzten, als „Dunkle Gestalten“ bezeichnet. Diese sind zufälligerweise schwarz und mißverstehen seine Bemerkung gründlich. Politisch hyperkorrekte Mitarbeiter zwingen Silk kurz vor der Pensionierung zum Rücktritt. Gedemütigt zieht er sich zurück. Erst als er die Putzfrau und Melkmagd Faunia Farley kennenlernt, überwindet er seine Verbitterung und beginnt eine sexuell intensive Affäre- es ist auch das Jahr von Viagra. Und wieder weckt er überall Ablehnung...
Roth vermeidet Sozialkitsch. Eine große Liebesgeschichte zwischen zwei Ungleichen, die gegen die Konventionen der Gesellschaft kämpfen, wird nicht daraus. Faunia, vom Leben schwer gebeutelt, vom Stiefvater mißbraucht, vom prügelnden Ehemann, einem traumatisierten Vietnam-Veteranen, verfolgt, glaubt nicht an Liebe, will nicht mehr als gelegentlichen Sex. Sie kann kaum lesen und schreiben, ist aber keineswegs dumm, sehr praktisch dem Leben zugewandt- im Gegensatz zu der abgehobenen feministischen Intellektuellen Delphine Roux, einer Dozentin, die in Faunia nur das hilflose Opfer eines alten Lustmolches sehen kann. Nein, nicht Liebe ist das zentrale Thema des Romans, sondern der große Makel., die eigentliche „Leiche im Keller“, die für Coleman Silk schwerer wiegt als alles andere: Er, der angebliche Jude, ist in Wirklichkeit ein Schwarzer. Spannend und menschlich bewegend führt uns der Autor eine Lebensgeschichte vor Augen, die geprägt ist von der Zerrissenheit eines Menschen zwischen seinen Wurzeln und seinem Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung. In Rückblenden erleben wir Colemans Trennung von der Familie, seinen Aufstieg, aber auch Ängste und Zweifel, die ihn niemals loslassen.
Für uns heutige Leser, für die „Multikulti“ oft zum Alltag gehört, mag es zunächst schwer nachzuvollziehen sein, wieso ein hellhäutiger Mensch, dem man die afroamerikanische Herkunft kaum noch ansieht, diese als so belastend empfindet, daß er ein Leben in Lüge vorzieht, immer in der Angst, der „negroide“ Einfluß könnte bei Kindern und Enkelkinder wieder durchschlagen. Um dies zu verstehen, muß man sich die von extremen Rassismus geprägte amerikanische Gesellschaft der 50er und 60er-Jahre vor Augen halten. In dieser Zeit, in der z.B. in Schulen schwarze und weiße Schüler durch Mauern getrennt waren, reichte bereits ein geringer Anteil „schwarzes Blut“, um Freundschaften und Karrieren zu zerstören. (An dieser Stelle sei an einen realen Fall erinnert- der bekannte Literaturwissenschaftler Anatole Broyard, über den ich in der Rezension zu „Verrückt nach Kafka“ schrieb, verschwieg bis zu seinem Tode seine Herkunft- vielleicht diente er Roth als Vorbild)
Immer wieder stellen sich neue Fragen, versucht der Autor, die Motive seines Protagonisten auszuleuchten, doch vieles muß offen bleiben. Coleman nimmt sein Geheimnis mit ins Grab.
Ein packendes Bild der amerikanischen Gesellschaft gestern und heute, die Saubermänner und Heuchler erscheinen lediglich in anderem Gewand. Beklemmende Nebenhandlungen werden eingeblendet, z.B. die Selbsthilfetreffen der Vietnam-Veteranen. Lebendige, glaubwürdige Figuren, mit denen der Leser sofort „mitgeht“- das alles macht dieses Buch zu einem seltenen Lesegenuß, und dank Roths herausragenden Erzähltalent wird es trotz seitenlanger innerer Monologe nie langweilig.
Philip Roth: Der menschliche Makel.
rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek, Oktober 2003.
400 Seiten, Taschenbuch.