Sally Nicholls Erstling »Wie man unsterblich wird« hat sich innerhalb kürzester Zeit zum Geheimtipp in Sachen Jugendliteratur gemausert. Ihr zweiter Roman ist jetzt ebenfalls in deutscher Übersetzung erhältlich und befasst sich ein weiteres Mal mit Verlust und Trauer. Diesmal ist es nicht das Kind, das stirbt, sondern die Mutter zweier Töchter ist bereits verstorben. Die 10-jährige Molly und ihre nur geringfügig ältere Schwester Hannah blieben mit dem Vater zurück. Als dieser mit dem Mädchen nicht klarkam, wurden sie zu Oma und Opa aufs Land geschickt. Hier warten sie nun seit Wochen auf die Rückkehr nach Hause, haben sich aber teils auch gut eingelebt und besuchen die örtliche Schule. Molly trifft bei ihren Unternehmungen auf einen sonderbaren Mann, der namenlos um sein Leben fürchtet. Sie ist sofort fasziniert von dem Fremden und will ihn auch ihrer Schwester Hannah vorstellen. Aber die sieht ihn nicht einmal! Bildet sich Molly den Mann nur ein oder ist er wirklich da?
Erst nach und nach rückt Molly, die in eigenen Worten das Geschehen umreißt, mit Details zu ihrem Leben heraus. Man spürt, dass in diesem Leben etwas fehlt, doch was es ist, lässt sich auf den ersten Seiten nicht greifen. Dass es die Mutter als Rückzugsmöglichkeit nicht mehr gibt und der Vater nicht für die Mädchen sorgen kann, wird erst mit der Zeit deutlich; Molly ist nicht in der Lage, es direkt zuzugeben. Erst als sie die Leser näher kennen gelernt hat, kann sie sich öffnen und Stück für Stück alles erzählen. Das wirkt wesentlich glaubhafter als eine Protagonistin, die von vorneherein im blinden Vertrauen ihre Lebensgeschichte in den Raum stellt.
Wie schafft man es nun, an den Erfolg eines brillant aufgenommenen Debütromans anzuknüpfen? Man entwirft eine Geschichte, die überrascht, die anders ist und gleichfalls verzaubert. Mystik und Realität werden ineinander verwoben, wenn Molly auf den Fremden trifft, der vielleicht etwas mit den Jahreszeiten zu tun hat – das sagt zumindest ihre Lehrerin, als Molly ein Denkmal entdeckt, das ihrem Mann aufs Haar gleicht.
Erneut lässt sich die Zielgruppe nur schwer auf den Punkt bringen. Sally Nicholls Geschichte ist keinesfalls so abgehoben, dass sie einem Kind nicht mehr gefallen könnte oder dieses sie nicht mehr verstehen würde. Nein, die Themen sind letztlich das Problem. Sie behandelt in durchaus depressiver Stimmung einige Themenkomplexe, die im Leben nicht vieler 10-jähriger Kinder einen Platz haben. Während ihre Gleichaltrigen Freundschaften schließen und die nachmittäglichen Treffen nach der Schule das wichtigste für sie sind, ist Molly eben anders. Sie setzt sich mit dem Verlust auseinander, den ihre Schwester, der Vater und sie erlitten haben. Deshalb eine eingeschränkte Empfehlung für das junge Publikum und natürlich auch wieder für interessierte Erwachsene, denn das gelingt Sally Nicholls nach wie vor gut: Erwachsenen die Welt und Denkweise eines Kindes aufzeigen!
Eine einfache Geschichte, die doch angereichert ist mit komplizierten Beziehungen und Emotionen. Mit »Zeit der Geheimnisse« kann Sally Nicholls an die überzeugenden Elemente ihres Debütromans anknüpfen!
Sally Nicholls: Zeit der Geheimnisse.
Hanser, Februar 2010.
208 Seiten, Taschenbuch, 14,90 Euro.
