Rainer Wieczorek lässt in seiner Tuba-Novelle, dem zweiten Band einer als dreibändig angelegten Künstlernovellen-Reihe des Dittrich Verlags, seinen Protagonisten als Stipendiaten in ein kleines Landhaus in Ussy-sur-Marne einziehen, um dort ein Essay über den Nobelpreisträger auf den Spuren Samuel Becketts zu verfassen. Dabei ist der Ansatz der Arbeit des bis Ende der Novelle nicht namentlich genannten Protagonisten klar: Der Stipendiat will über Becketts in Ussy-sur-Marne, einem 60 Kilometer westlich von Paris gelegenen Dorfes entstandene Arbeiten schreiben, über Becketts Refugium auf dem Lande, über Becketts Muße zu Schreiben und auch über die Unmöglichkeit zu Schreiben - dann, wenn, wie im Falle Becketts, ein Nachbar durch seine Anwesenheit das Schreiben unmöglich zu machen droht.
Und auch der Stipendiat gerät, von Wieczorek literarisch äußerst geschickt und humorvoll angelegt, in eine vergleichbare Situation: Im Haus gegenüber, im "Spanischen Haus", zieht ein Tubaspieler ein. Jeden Vormittag übt dieser nun, übt Tonleitern, Staccato-Übungen, seinen Ansatz und verhindert damit die klaren Gedanken des Stipendiaten zum Thema des von ihm geplanten Essays. Dabei schwankt der Stipendiat zwischen Verunsicherung über diese Störung und einem Aufkeimen dem Essay entgegenstehender Gedanken - immer weiter entfernt sich der Autor von seinem Ursprungsgedanken und wird, unfreiwillig, mit zurückliegenden Erlebnissen konfrontiert, denn auch sein Vater war Musiker, spielte einst die aktuell im Nachbarhaus geprobten Musikstücke und verbat sich stets beim Üben gestört zu werden. Dass sich der Stipendiat im Verlauf der Geschichte in einem Musikhandel ein eigenes Tubamundstück kauft (übrigens genau das, was auf dem Einband des Buches abgedruckt ist!), deutet die Richtung, in die sich die Novelle entwickeln wird. Immer weiter tritt das angestrebte Essay über Beckett und seine Arbeiten in Ussy-sur-Marne in den Hintergrund und die Gedanken des Stipendiaten erleben eine neue Dynamik in eine völlig andere, völlig eigene Richtung.
Wie auch schon in seiner ersten Novelle „Zweite Stimme“ begeistert der 1956 in Darmstadt geborene und dort mit seiner Frau und Tochter lebende Rainer Wieczorek sprachlich brillant und führt den Leser phantasievoll und einfühlsam durch die Geschichte. Er entwirft dabei, äußerst ansprechend zu lesen, die Gedankenwelt seines Protagonisten, arbeitet diese auf und fesselt den Leser durch seine behutsame, wunderbare Sprache. Wie seine Tuba-Novelle schließlich endet, und ob sein Protagonist tatsächlich ein Essay entwirft, lässt Wieczorek, der 1997 den Lichtenbergpreis für Literatur erhielt, bewusst offen. Ich wünsche mir sehr, dass in dem von Wieczorek beschriebenen neunmonatigen Stipendium kein einziges Wort über Beckett durch den Protagonisten geschrieben wurde - denn ausschließlich die Gedankenwelt des Stipendiaten und damit die des Lesers der Tuba-Novelle sollten in Bewegung geraten - anzunehmen, dass das der Sinn dieser herrlichen Novelle ist. Rainer Wieczorek legt mit der „Tuba-Novelle“ erneut ein großartiges Werk moderner und berührender Literatur vor und ich bin sicher, dass auch der dritte Teil „Der Intendant kommt“ die Wieczorek-Reihe, eine Trilogie von Künstlernovellen des Dittrich Verlags und geplant für das Frühjahr 2011, gebührend abschließen wird.