Hans Giebenrath hat es geschafft. Die Jahre des verbissenen Lernens, des unstillbaren Wissensdurstes haben sich gelohnt: Er hat sein Examen als einer der Jahrgangsbesten abgelegt und darf sich nun seinen Studien in einem Kreis elitärer Musterschüler widmen. Doch der Schein trügt: Das scheinbare Intelligenzwunder zerfasert im Angesicht des Einflusses des rebellischen Schülers Hermann Heilner – der ihm rät, sein Leben nicht bloß lernend zu verbringen – zunehmend. Bald wird sich der junge Hans der eigenen Grenzen bewusst, gerät in einen moralischen Zwiespalt – und wird vom Sog der sich förmlich eigendynamisch entwickelnden Ereignisse in eine Welt getragen, die mit seinem ursprünglichen, von Vater Joseph Giebenrath und dem generellen gesellschaftlichen Einfluss vorgesehenen Lebensplan nichts mehr gemein hat...
Obwohl vor mittlerweile über 100 Jahren (1906) publiziert, hat Hesses Roman nicht an Aktualität verloren. Im Gegenteil, in Zeiten von Turbo-Abitur und möglichst früher Eingliederung in ein sauber tickendes ökonomisches Uhrwerk ist das Frühwerk des Literatur-Nobelpreisträgers Hesse gerade für Schüler in Deutschland wohl aktueller denn je. Immerhin sind die Geburtenraten im Talflug – und wer, wenn nicht die G8-Generation, soll das gerade rücken? Leistungsbewertung schon im Grundschulalter (das Kind soll ja mal aufs Gymnasium) und 1,0-Abitur für jedermann sind hier der Schlüssel zum Erfolg – man bräuchte „Unterm Rad“ quasi nur mit ein paar wahllosen Begriffen unserer aktuellen zeitgenössisch-politischen Debatten zu garnieren (was wäre, wenn Hans Giebenrath einen „Integrationsverweigerer“ träfe statt einen verborgenen Künstler á la Heilner?), schon wäre das Ganze eine beklemmende Gegenwartsstudie.
In Ländern wie Japan erzielt das Werk schon seit jeher astronomische Auflagen, von denen nationale Autoren selbst im eigenen Land nur träumen können – verständlich, immerhin herrscht dort seit jeher ein enormer Leistungsdruck (was sich u. a. in permanenten Verspätungen im dortigen Bahnnetz aufgrund der hohen Suizid-Quote unter Schülern äußert).
Der Roman begnügt sich allerdings nicht mit der dramatisch-philosophischen Ebene. Zwar ist diese eindeutig – und vor allem gen Ende – der dominante Part des Buches, dennoch markiert auch die humorvolle Basis einen ganz besonderen Reiz; ein bizarr-zynisch, zuweilen grotesker Witz (primär in Form des kauzigen Emil Lucius), der dem Roman den Charme einer bitterbösen Abrechnung mit Giebenraths Umfeld verleiht und den geneigten Leser zuweilen zu ekstatischen Lachanfällen motiviert. Hiermit ist Hesse, dessen persönlicher Lebenslauf übrigens frappierende Ähnlichkeiten zu dem von Hans Giebenrath aufweist (siehe „Unterm Rad der Fremdbestimmung“ von Volker Michels) sicherlich ein Meilenstein gelungen.
Hermann Hesse: Unterm Rad (1906).
Suhrkamp Verlag, Mai 1972.
176 Seiten, Taschenbuch.