Gemälde in einem Museum, in einem alten Schloss oder an der Wand von Bekannten haben alle eine mystische Eigenschaft. Die Augen der gemalten Personen scheinen einen zu verfolgen, wo man seinen Fuß auch hinsetzt und die Personen scheinen einem immer seltsam vertraut, obwohl sie schon lange tot oder völlig fremd sind, als würden sie mit ihren leblosen Augen einfach in den Bewunderer ihres Antlitzes hineinschauen.
In „Die Göttin aus der Paradise Row“ wird die Geschichte einer dieser Personen erzählt. Die Geschichte eines Modells.
Ivy lebt in ärmlichen Verhältnissen in der – im Gegensatz zu ihrem Namen – so schäbigen Paradise Row bei ihrem Onkel und ihrer Tante. Mit fünf Jahren erfährt sie das unheimliche Glück, mit ihrem geliebten Cousin Orlando eine Schule zu besuchen. Doch Ivy kann der Bildung nichts abgewinnen, in ihrer verträumten und eingeschüchterten Art fällt sie bereits am ersten Tag auf. Als sie schließlich dazu gezwungen wird Fleisch zu essen, was Ivy stets vermeidet, läuft sie weg, verirrt sich und findet sich darauf in der Mitte einer Diebesbande wieder.
Erst zwei Jahre später steht sie noch einmal vor der Tür in der Paradise Row. Die Jahre vergehen und die Laudanum abhängige Ivy wächst zu einer hübschen jungen Frau heran, die mit ihren roten Haaren und der blassen Erscheinung das Schönheitsideal für den Künstler Oscar Aretino Frosdick darstellt. Er engagiert sie als Modell und Ivys Leben ändert sich über Nacht. Als Ernährerin ihrer gleichgültigen Familie wird sie ein wenig geschätzt, sie muss mit Schlangen posieren und sich nicht nur aus der festen Umarmung dieses Tieres retten, sondern sich ebenfalls vor der hinterhältigen Mutter ihres Künstlers in Acht nehmen. Denn diese – krank vor Eifersucht – trachtet ihr mit den skrupellosesten Methoden nach dem Leben.
Nicht nur die Ereignisreiche Handlung von Hearns „Die Göttin aus der Paradis Row“ ist unglaublich fesselnd. Mit ihrer verträumten Sprache und den geschickt gesetzten Unterbrechungen und Pausen der Geschichte schafft Hearn eine Spannung die bis zu letzten Seite knistert. Sie zeichnet herrliche Inhaltsverstrickungen ohne ihren Leser zu lange mit Ahnungslosigkeit zu foltern. Schließlich setzt sich alles zu einem plausiblen, funktionierendem Bild zusammen. Warum Ivy die Bande verließ, wieso der Nachbar des Künstlers eine so große Rolle spielt, was ein ungeöffneter Brief bewirken kann. Selbst kleine Elemente, die Hearn nur beiläufig erwähnt, erfahren eine immense Bedeutung für den Verlauf der Handlung.
Die Grundidee, auf der ihr Roman basiert wird erst im allerletzten Satz für den Leser erkennbar und ist deswegen so faszinierend, dass der Gedanke an die Verschlingungen in „Die Göttin aus der Paradise Row“ mystisch fesselt.
Hearn baut stetig Brücken in ihren Roman, die den Leser zu einer ungewöhnlichen Gedankenführung zwingen und extrem interessant, trotzdem äußert plausibel wirken.
Hearns Sinn und Sicherheit im Umgang mit Feinheiten – sowohl inhaltlich als auch literarisch – stellt eine Art Sahnehaube auf diesem Schokoladenkuchen von Sätzen dar.
Aus ihrer vermeidlich charakterlosen Protagonisten lässt sie eine willensstarke Frau erwachsen, deren größter Wunsch ist, ihr eigenes Rückgrat zu beweisen.
So folgt der Leser Ivy geradezu auf ihrem Weg zu Selbstfindung.
Ebenso ist es mit dem Inhalt.
Aus einer eigentlich simplen Grundidee entfaltet sich ein Stück Biographie, an Komplexität, Liebenswertigkeit und Melancholie schwer zu übertreffen.
Hearn spielt mit der Sprache, mit den Gedanken ihrer Leser, sie lässt einen Hauch Dickens mit einfließen und vereint Schönheit mit Verzweiflung und dem letztendlichen Überleben der Hoffnung.
So fesselnd, so traurig, so märchenhaft und doch realistisch. So hypothetisch und doch wahrscheinlich – ein Traum von einem historisch, gesellschaftskritischem Jugendbuch.
Julie Hearn: Die Göttin aus der Paradise Row.
dtv, MĂĽnchen, Juli 2007.
432 Seiten, Taschenbuch.