Das mit 328 Seiten dickste Buch unseres Verlagsprogramms ist die Vampiranthologie "Ganz schön bissig ..." - die 33 besten Geschichten aus 540 Einsendungen.
„Die Geschichte kann anfangen.“
Und was für eine Geschichte!
Nicola Ciraulo wird in seinem eigenen Wohnzimmer erschossen. Die Großmutter erklärt der Polizei, Tancredi, der Sohn des Opfers, sei es gewesen. Während Tancredi schweigt, seine Mutter, der Großvater und die zahlreichen Hausbewohner nichts wissen wollen, wird vergeblich nach der Tatwaffe gesucht.
Im zweiten Erzählstrang, der gekonnt in Rückblenden eingebettet ist, öffnet sich am Beispiel der sechsköpfigen Familie Ciraulo das Panorama Palermos in einem der ärmsten Viertel. Die Tochter Serenella gerät in einen bewaffneten Kampf rivalisierender Mafiosi und stirbt durch eine verirrte Kugel.
Der Mangel an bezahlter Arbeit, das rationierte Wasser in dem heruntergekommenen Wohnviertel bringt die Familie auf die Idee, vom Staat einen Opferausgleich zu fordern, der eine Kette aus weiteren Sachzwängen schmiedet. Die Geschichte eskaliert mit dem Tod des alleinigen Ernährers der Familie.
Roberto Alajmo hätte einen Krimi oder einen Thriller über dieses Thema schreiben können. Er wählte den Roman, um ohne Effekthascherei in seiner ruhigen, sachlichen Sprache Grausamkeiten zu erhöhen. Teilweise humorvoll, ironisch widmet er sich dem Mord: „Seit einiger Zeit breitet sich ein Blutfleck unter der Leiche aus. Auch die Großmutter hat ihn bemerkt. Sie missbilligt sowohl den Fleck als auch die ganze Situation, in die sie alle geraten sind.“
Die äußerst füllige Großmutter stößt auch noch an andere Grenzen: „Da sie auf eigenen Beinen angekommen war, wurde sie fortwährend von anderen Leidenden aus dem Feld geschlagen, die so vorausschauend gewesen waren, sich in die Notaufnahme tragen zu lassen und den Wartesaal daher binnen kürzester Zeit wieder verließen ...“
Das Zusammenspiel der Familie nach Serenellas Ermordung charakterisiert Roberto Alajmo an einer Stelle beispielhaft: „Nachdem die unmittelbar auf das Inkasso folgenden dringendsten Rechnungen bezahlt waren, wurde am ersten geeigneten Montagabend eine Familienvollversammlung einberufen. Entscheidend für die Auswahl des Tages war die Tatsache, dass das Montagsprogramm im Fernsehen übereinstimmend als uninteressant bewertet wurde.“
Kunstvoll verwebt Alajmo die zwei Erzählstränge seines Romans, so dass sich beim Lesen der letzten Worte der Kreis schließt und das Bedürfnis entsteht, sofort mit der ersten Zeile weiter zu lesen. Die Entdeckung neuer, bisher noch nicht bemerkter Facetten der Intrigen und Machenschaften der Familie dürften kaum verwundern.
Roberto Alajmo, 1959 in Palermo geboren, ist der Autor mehrerer Romane, für die er Preise wie den Premio Mondello und den Premio Super Vittorini erhielt. Er schreibt auch als Journalist der Rai in seiner Heimatstadt.
Mit seinem aktuellen Roman „Es war der Sohn“ schafft er eine Verbindung zu seinem 2007 erschienenen „Palermo sehen und sterben“, das von dem Rezensenten Henning Klüver mit großer Begeisterung als wunderbares Palermobuch vorgestellt wurde. So wie die Stadt Palermo wie eine Zwiebel schichtweise freigelegt wird, entblättert er liebevoll die Machenschaften der Familie Ciraulo. Der Leser findet dabei neue Perspektiven, die frei von Klischees und Vorurteilen sind. Nicht umsonst lässt er Trancedi, den von der Familie abgeurteilten Nichtsnutz erkennen, den Polizisten müsse seine Geschichte erstaunlich vorkommen, „... weil der Schuldige nicht der ist, der er zu sein schien - was sie bereits erkannt hatten und was ihnen wahrscheinlich ziemlich oft passiert -, sondern weil der Schuldige schuldig und unschuldig zugleich ist.“
Großmutter Ciraulo würde dazu vermutlich anmerken: „Es ist, wie es ist.“
Und doch ist alles anders, als man denkt.
Roberto Alajmo: Es war der Sohn.
Hanser, März 2011.
256 Seiten, Gebundene Ausgabe, 19,90 Euro.