Das mit 328 Seiten dickste Buch unseres Verlagsprogramms ist die Vampiranthologie "Ganz schön bissig ..." - die 33 besten Geschichten aus 540 Einsendungen.
Jed Martin ist Künstler und wird durch eine zufällige Idee über Nacht berühmt. Beim Studieren einer Michelin-Autokarte fällt ihm auf, dass ihn die Karte selbst mehr interessiert als das Gebiet, das sie beschreibt. Er besorgt sich einen ganzen Schwung Karten aus allen Gebieten Frankreichs und beginnt, diese aus verschiedenen schrägen Perspektiven zu fotografieren und wandfüllend zu vergrößern. Bei einer Gemeinschaftsausstellung erregt er damit die Aufmerksamkeit der ebenso hübschen wie sympathischen Olga, die in der Presseabteilung des Michelin-Konzerns arbeitet. Mit ihrer Hilfe gelingt Jed der Sprung auf den internationalen Kunstmarkt. Zwischen den beiden kommt es zu einer kurzen Liebesgeschichte, die jäh endet, als Olga aus beruflichen Gründen nach Moskau zurückkehren muss. Jed, der erst langsam den Verlust begreift, beschließt, fortan nur noch Porträts von Menschen zu malen.
Im zweiten Teil des Romans sind zehn Jahre vergangen, in denen Jed intensiv an seinen Bildern gearbeitet hat. Er porträtiert Menschen, die einen aussterbenden Beruf ausüben, bei der Arbeit, oder er malt skurril-hintergründige Szenen wie Bill Gates und Steve Jobs diskutieren über die Zukunft der Informatik. Gleichzeitig knüpft er Kontakte zu dem Galeristen Franz Teller und bereitet eine große Ausstellung vor. Den Text dazu soll der berühmte Schriftsteller Michel Houellebecq schreiben, der einsam in einem Haus in Irland lebt. Jed Martin macht sich auf, den Autor zu besuchen, und dieser erklärt sich bereit, ein 60-Seiten-Konvolut für die Presse zu verfassen. Beide, der Autor und der Maler, sind im Grunde Prototypen des Künstlers als „einsamer Wolf“, und doch kommt es in ihren Gesprächen zu einer leisen Annäherung. Jed, den man auch als alter ego des Autors sehen kann, beginnt, dessen Porträt zu malen, das er ihm schließlich zum Geschenk macht und persönlich zu dessen neuen Wohnsitz in der französischen Provinz bringt.
Der dritte Teil beginnt mit einem radikalen Bruch in der Erzählstruktur: Kommissar Jean-Pierre Jasselin von der Pariser Mordkommission steht vor eben diesem Haus und wartet auf die Spurensicherung. Der Schriftsteller wurde erschossen und auf bestialische Weise verstümmelt aufgefunden. Die Polizei tappt zunächst im Dunkeln - gestohlen wurde offenbar nichts. Erst als Jed Martin den Kommissar als Zeuge in Houellebecqs Haus begleitet, stellt er fest, dass sein Porträt des Autors fehlt ...
Ein sehr vielschichtiges Buch, das Elemente des Künstler-, Gesellschafts- und Kriminalromans kombiniert, andererseits diese Genres auch wieder in Frage stellt und parodiert. Jeds kometenhafter Aufstieg, die Schwerfälligkeit der Polizei, der schöne Schein der Kunst- und Prominentenwelt, all dies wird oft gekonnt überspitzt. Dass ein Autor sich selbst als Romanfigur einsetzt und dazu noch umbringen lässt, ist sicherlich ein bizarrer Einfall, und man fragt sich als Leser, ob Michel Houellebecq hier nicht etwas Selbstdarstellung betreibt. Allerdings zeichnet er ein durchaus ehrliches Bild von sich selbst - vom verlotterten Trinker bis zum holzhackenden Hundefreund im väterlichen Landhaus.
Nur oberflächlich geht es hier um einen Kriminalfall. Das eigentliche Grundthema ist Verfall und Vergänglichkeit, aber auch die Hoffnung auf Veränderung. Wer den Autor in früheren Werken wie „Ausweitung der Kampfzone“ als zynischen Misanthropen kennt, wird überrascht sein: Diesmal zeichnet er ein eher hoffnungsvoll-positives Menschenbild, und seine Saitenhiebe auf die französische Gesellschaft münden in eine Vision von einem anderen, neuen Frankreich im Jahre 2035, das Jahr von Jed Martins Tod.
Etwas schwer tut sich der deutsche Leser mit den vielen Anspielungen auf französische Prominente und regionale Eigenheiten, die vermutlich nur ein Landsmann des Autors versteht. Auch kommt der Held Jed Martin etwas dröge und konturlos daher, und eine echte, durchgängige Handlung fehlt weitgehend.
Trotzdem ist „Karte und Gebiet“ nicht zuletzt wegen der klaren und flüssigen Sprache eine angenehme Lektüre, bei der sich Tiefsinn und Ironie die Waage halten und das tiefschürfende Thema Vergänglichkeit mit Selbstironie und Leichtigkeit behandelt wird.
Michel Houellebecq: Karte und Gebiet.
Dumont Buchverlag, März 2011.
416 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,99 Euro.