Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
Jodi Picoult: In den Augen der anderen, gelesen von Nicolás Artajo u.a.
Trotz seines Asperger-Syndroms führt Jacob Hunt ein relativ normales Leben. Asperger-Patienten haben eine besondere Form des Autismus. Jacobs Passion ist die Forensik und er hat sogar eine Lehrerin, die Studentin Jess, die ihm Nachhilfe in sozialem Verhalten gibt. Eine ihrer Aufgaben besteht darin, etwas für jemand anderen zu tun, ohne dabei nur an sich selbst zu denken, was eine weitere Auswirkung von Jacobs Krankheit ist. Jacob lebt nicht wirklich in einer eigenen Welt, er sieht nur viele Dinge anders als die neurotypischen Menschen um ihn herum. Im Laufe der Jahre - inzwischen ist er 18 - hat er gelernt, das zum Teil zu kompensieren, er hat mühsam gelernt, das „Nimm dir einen Stuhl“ nicht bedeutet, er soll den Stuhl hochheben und ähnliche Dinge. Jess arbeitet mit ihm daran, damit er mit dem hervorragend funktionierenden Verstand begreifen kann, was den meisten Menschen intuitiv gegeben ist.
Jacobs Bruder Theo hat sich damit abgefunden, dass sich in der kleinen Familie, zu der auch noch die Mutter Emma gehört, beinah alles um Jacob dreht. Jacob braucht bestimmte Dinge geordnet um sich, er hasst Veränderungen und reagiert darauf mit Wutanfällen. Wie Theo sagen würde: Es ist einfacher sich damit abzufinden, dass montags alles Essen rot und dienstags grün ist, als ständig die Anfälle seines Bruders ertragen zu müssen. Er hat ein eigenes Ventil für seine Frustration gefunden: Das ausspionieren von heilen Familien, das Einbrechen in ihre Häuser und ein harmloses Träumen an ihrem Esstisch, wenn sie nicht daheim sind. Ab und an nimmt er auch etwas mit, von dem er sicher ist, dass sie es nicht vermissen werden.
Da verschwindet Jess, wenig später wird ihre Leiche gefunden.
„In den Augen der anderen“ ist ein komplexes Hörbuch, dass sich um die Frage dreht, wer der Mörder ist. Noch viel wichtiger sind aber die Gedanken der Beteiligten. Die Mutter Emma, die um Jacob kämpft wie eine Löwin und dabei doch manchmal zweifelt. Der Anwalt, der Jacobs einzige Chance darin sieht, ihn für nicht zurechnungsfähig erklären zu lassen. Aber ist er das wirklich? Jacob begreift alles, was um ihn herum vorgeht, er missinterpretiert es nur manchmal.
Das Erzählen aus verschiedenen Sichten entwickelt sich zu Jodi Picoults Spezialgebiet. Sie beherrscht die unterschiedlichen Erzählungsebenen virtuos, ohne den Zuhörer jemals mehr zu verwirren, als sie es beabsichtigt hat. Lübbe Audio hat das hervorragend umgesetzt mit verschiedenen Sprechern, die den Protagonisten ihre Stimmen leihen. Hat man das Hörbuch einmal angefangen, kann man kaum noch aufhören.
Fazit: Spannende Unterhaltung mit der Behandlung der wichtigen Frage „Was bedeutet eigentlich normal?“
Jodi Picoult: In den Augen der anderen, gelesen von Nicolás Artajo u.a..
Lübbe Audio, August 2011.
6 CDs, 19,99 Euro.