Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespĂŒrt.
In dem Roman âDie Schwesterâ von SĂĄndor MĂĄrai erkrankt der Pianist Z. nach seinem Konzert in Florenz so schwer, dass er fĂŒr mehrere Monate um sein Leben kĂ€mpft. Mit Hilfe der Ărzte und Ordensschwestern versucht Z. den GrĂŒnden fĂŒr seine Erkrankung nachzugehen und verliert dabei seinen Lebenswillen. MĂĄrai erzĂ€hlt behutsam und zugleich eindringlich die Geschichte einer Genesung, bei der Z. alles verliert, was er liebt und sein Leben lebenswert gemacht hat: Die Liebe zu der verheirateten (frigiden) E. und seine Existenz als Pianist kommen auf den PrĂŒfstand. Das Eingreifen einer Schwester verĂ€ndert dann jedoch all seine ZukunftsplĂ€ne.
Der Roman beginnt aus der Perspektive eines ErzĂ€hlers, der mehrere Personen beschreibt, die wĂ€hrend des Zweiten Weltkrieges die Weihnachtsfeiertage in einem schlecht geheizten Berggasthof verbringen. Der ErzĂ€hler erkennt als Einziger den einst berĂŒhmten Pianisten Z. Als das Paar aus der âFĂŒrstensuiteâ zu Weihnachten den Freitod wĂ€hlt, kommen der ErzĂ€hler und Z. ins GesprĂ€ch. Z.âs Versprechen, dem ErzĂ€hler sein Manuskript zu geben, wird erst nach dessen Tod eingehalten.
MĂĄrais anspruchsvoller ErzĂ€hlstil geht psychologisch in die Tiefe. Gleichzeitig hinterfragt er das âKrankseinâ. An einer Stelle fragt Z. den behandelnden Arzt, was er fĂŒhlte, wenn er in einem fremden Zimmer einen fremden Menschen sehe, der stöhne.
âIch höre eine Frageâ, antwortete er ernst und andĂ€chtig. âDie Frage lautet: Was ist hier die LĂŒge? Ich meine: Wie wurde aus der LĂŒge eines Lebens Krankheit?â
Wie das Thema so ist auch die Struktur des Romanes ungewöhnlich, denn die Geschichte des ErzÀhlers ist nach knapp 80 Seiten abgeschlossen. Die Leidensgeschichte des Pianisten Z. nimmt dagegen 2/3 des Romanes ein.
Aus den Lebensdaten von SĂĄndor MĂĄrai geht hervor, dass dieser von Ende 1946 bis FrĂŒhjahr 1947 in Italien war. Möglicherweise entstand dort der Roman âDie Schwesterâ. Als er im September 1948 Ungarn endgĂŒltig verlieĂ, war der Roman vollendet. Zur gleichen Zeit gab es fĂŒr MĂĄrais BĂŒcher nur noch die unter der kommunistischen Regierung angeordneten Verrisse. Im Exil, hauptsĂ€chlich in Italien und spĂ€ter als amerikanischer StaatsbĂŒrger in den USA, schrieb er ausschlieĂlich auf Ungarisch und verschickte seine zum Teil selbst verlegten BĂŒcher in die alte Heimat. Mit seinem 1998 in Deutschland erfolgreich neuaufgelegten Roman âDie Glutâ (erstmals erschienen 1942) erfuhren seine Werke eine neue Aufmerksamkeit. Dank dieser Renaissance sind viele seiner Romane wieder veröffentlicht worden.
SĂĄndor MĂĄrai, geboren am 11. April 1900 in Kaschau (Ăsterreich-Ungarn), gestorben am 22. Februar 1989 in San Diego (USA) durch eigene Hand, galt als einer der bedeutendsten ungarischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, der sich auch als Dramatiker und Lyriker einen Namen gemacht hatte.
Empfehlenswert ist der zeitlose Roman âDie Schwesterâ fĂŒr alle, die sich in einem existenziellen Umbruch befinden oder einen schwer Erkrankten in ihrem Umfeld haben. Und natĂŒrlich fĂŒr jeden, der MĂĄrais Romane mag.
SĂĄndor MĂĄrai: Die Schwester.
Piper, August 2011.
288 Seiten, Gebundene Ausgabe, 18,99 Euro.