Unsere Literaturzeitschrift Schreib-Lust Print bietet die neun besten Geschichten eines jeden Quartals aus unserem Mitmachprojekt. Dazu Kolumnen, Infos, Reportagen und ...
Wie soll man einem fast 1.000 Seiten umfassenden Roman gerecht werden, ohne ebenfalls 1.000 Seiten zu schreiben?
Der Roman âHerr der KrĂ€henâ beschreibt sehr bildhaft, wie der Einwanderer Kamiti in dem fiktiven afrikanischen Land Aburiria zum Herrn der KrĂ€hen wird. Zu Beginn hat der zukĂŒnftige Herr der KrĂ€hen den niedrigsten Status, den man sich denken kann: Er ist obdachlos, mittellos, wird aufgrund seiner Fremdheit wie ein Paria behandelt und kann trotz Hochschulabschluss nur als Bettler sein Leben fristen. Völlig erschöpft und kurz vor seinem Hungertod liegt er auf einem der vielen MĂŒllberge in Eldares StraĂen. Auf der Grenze zwischen Leben und Tod verlĂ€sst ihn seine Seele, schwingt sich wie ein Vogel zum Himmel hinauf und kehrt schlieĂlich reich an Weisheiten und FĂ€higkeiten zurĂŒck, als sein Körper gerade von drei MĂŒllmĂ€nnern entsorgt wird. Diese glauben bei der Auferstehung des Toten an Satan und laufen schreiend davon.
Zur gleichen Zeit regiert âder Herrscherâ, auch genannt âSeine AllmĂ€chtige Vortrefflichkeitâ, auf dem Höhepunkt seiner Macht in Aburiria. Er bestimmt die Zeit, die Ordnung, ĂŒber Leben und Tod mit einer BeilĂ€ufigkeit, die gruseln könnte, wĂ€re da nicht der satirische Unterton. Den Gipfel seiner Macht will der Herrscher mit einem gigantischen Bauprojekt âMarching to Heavenâ krönen, fĂŒr das die Global Bank (New York) Kredite bewilligen soll.
Die Geschichte des Diktators und des Herrn der KrĂ€hen wird von zahlreichen Zeugen begleitet, die aufgrund ihrer eigenen Erlebnisse und den daraus gewonnenen Erkenntnissen in das Geschehen eingreifen. Geschickt werden durch die wechselnden Perspektiven die Enden weiterer ErzĂ€hlstrĂ€nge verknĂŒpft. Auf diese Weise schafft es Ngugi wa Thiongâo seinem Roman immer wieder neue Wendungen zu schenken, die teilweise mit ihrer Symbolik und dem mitunter mĂ€rchenhaften Charakter das Absurde einzelner Begebenheiten weiter erhöht. Beispielhaft wĂ€re die gewaltsame Ăbernahme des StaatsgefĂ€ngnisses durch ein Folteropfer nur mit Hilfe eines vollen FĂ€kalienkĂŒbels.
Wenn diese dicht gewebten Geschichten ĂŒber Politik, Liebe, Aufstieg und Untergang enden, sind die meisten Beteiligten gewaltsam ums Leben gekommen. Zwar hat der Roman âHerr der KrĂ€henâ einen Anfang und ein Ende, verweist jedoch auf neue Aufstiege und drohende UntergĂ€nge, so dass ein Kreislauf entsteht, der immer weiter zu gehen scheint und dabei eine bizarre und zugleich makabere Zukunft skizziert. Es ist wie im echten Leben, wenn es praktisch âum die Wurst gehtâ, ob im arabischen FrĂŒhling, in der aktuellen Finanzkrise oder im Hinblick auf das Schicksal vieler afrikanischer Völker, deren Land und Leben von einigen wenigen verkauft wurden.
Ngugi wa Thiongâo hat vermutlich seine gesammelten Lebenserfahrungen und Weisheiten in diesen Roman gepackt und eine Realsatire mit tiefgrĂŒndigem Humor geschrieben. Er schreibt unter anderem in seinem Nachwort, er danke seinen kenianischen WeggefĂ€hrten und John la Rose und Sarah White fĂŒr ihre aktive Rolle im Kampf in Kenia. Hieraus lassen sich seine möglichen Erfahrungen und BezĂŒge zu seinem Roman herleiten. Er wurde 1938 in Kenia geboren. Obwohl er in einer Bauernfamilie groĂ wurde, konnte Ngugi wa Thiongâo in vielen LĂ€ndern studieren. 1982 ging er ins Exil nach London und schlieĂlich in die USA, wo er heute an der University of California in Irvine lehrt.
Selten findet sich eine kurzweilige, vergnĂŒgliche, spannende LektĂŒre mit diesem Umfang, die schlieĂlich mit einem Bedauern weggelegt wird, weil die letzte Seite, die letzte Zeile und das letzte Wort gelesen sind. Der nĂ€chste Roman auf dem BĂŒcherstapel hat auf jeden Fall einen schweren Stand.
Ngugi wa Thiong'o: Herr der KrÀhen.
A 1 Verlag, August 2011.
944 Seiten, Gebundene Ausgabe, 29,90 Euro.