Unsere Literaturzeitschrift Schreib-Lust Print bietet die neun besten Geschichten eines jeden Quartals aus unserem Mitmachprojekt. Dazu Kolumnen, Infos, Reportagen und ...
Ein Mann wartet in seinem Wagen vor einer roten Ampel. Die Ampel schaltet auf grĂŒn, doch der Mann fĂ€hrt nicht los. Er hat ohne Vorwarnung sein Augenlicht verloren und sieht alles weiĂ, als ob er "in einem Nebel gefangen oder in einen milchigen See gefallen wĂ€re". Ein barmherziger Samariter bietet an, ihn nach Hause zu fahren und stiehlt ihm danach das Auto. Seine Frau bringt ihn mit dem Taxi zur Untersuchung in eine nahegelegene Augenarztpraxis. Innerhalb eines Tages erblinden der hilfreiche Autofahrer, der Taxifahrer, der Augenarzt und alle Patienten, die sich in dessen Wartezimmer aufgehalten haben.
Die Blindheit greift um sich wie eine Epidemie und die Regierung gerĂ€t in Panik. Die Erkrankten werden in eine leerstehende Nervenheilanstalt transportiert und dort unter QuarantĂ€ne gestellt. Soldaten, die den Befehl haben, jeden zu erschieĂen, der zu fliehen versucht, bewachen die Blinden. Die Frau des Augenarztes behĂ€lt als Einzige ihr Augenlicht. Sie verbirgt dies jedoch und begleitet ihren blinden Mann in die Nervenheilanstalt.
Die Zahl der Opfer wĂ€chst rasant. Das Asyl ist bald ĂŒberfĂŒllt und die Versorgung der internierten Blinden bricht zusammen. Toiletten verstopfen und laufen ĂŒber, die Lebensmittellieferungen gelangen nur noch sporadisch in die Klinik, es gibt keine medizinische Versorgung fĂŒr die Kranken und keine Möglichkeit, die Toten richtig zu begraben. ZwangslĂ€ufig beginnen die gesellschaftlichen Konventionen ebenfalls zu zerfallen.
Eine Gruppe der blinden Insassen ĂŒbernimmt die Kontrolle ĂŒber die schwindende Lebensmittelversorgung und beutet die Bewohner der anderen SchlafsĂ€le aus. Um Nahrungsmittel zu erhalten, mĂŒssen die anderen Bewohner die WertgegenstĂ€nde, die sich bei sich fĂŒhren, an die Kontrolleure abgeben. Nachdem alle WertgegenstĂ€nde gegen Nahrungsmittel getauscht sind, verlangen die Ausbeuter, dass die Frauen sich zu sexuellen Dienstleistungen zur VerfĂŒgung stellen.
âDie Stadt der Blindenâ liefert eine erschreckend detaillierte Beschreibung des Zusammenbruchs der menschlichen Gesellschaft nach einer Katastrophe. Saramago erspart seinen Figuren und dem Leser nichts. Seine Beschreibungen der unhaltbaren hygienischen ZustĂ€nde in der ehemaligen Nervenheilanstalt, des Streits um die besten SchlafplĂ€tze sowie die begrenzten Nahrungsmittel und der rohen BrutalitĂ€ten wie die Massenvergewaltigung der blinden Frauen sind in ihrer Drastik bisweilen kaum zu ertragen.
Und doch ist Saramago ein unbedingter Moralist, der daran glaubt, dass es grundlegende menschliche Werte und QualitĂ€ten gibt, die sich noch unter extremen Bedingungen bewĂ€hren. Die Frau des Arztes, die ihren Mann aus Liebe in die QuarantĂ€ne begleitet, ist so eine Lichtgestalt. Sie leiht dem Leser ihre Augen und fĂŒhrt ihn durch diese Hölle aus unfassbarem Schmutz und unvorstellbarer Gewaltakte, in der trotz der unertrĂ€glichen ZustĂ€nde einzelne Menschen dazu fĂ€hig sind, erstaunliche Akte der NĂ€chstenliebe zu vollbringen. Die Frau des Arztes fĂŒhrt die Blinden ihres Schlafsaals zur Toilette, hilft ihnen beim Ankleiden, sĂ€ubert sie von Schmutz und Kot, ohne ein einziges Mal zu klagen oder ungeduldig zu werden mit diesen hilflosen Opfern der Krankheit.
Saramago macht es dem Leser nicht leicht, in seinen Roman hineinzufinden. âDie Stadt der Blindenâ beginnt sperrig. SchachtelsĂ€tze ziehen sich ĂŒber zwei oder drei Seiten, der Autor scheint AbsĂ€tze und Satzzeichen nicht sonderlich zu schĂ€tzen und die eingeschobenen Dialoge sind nur schwer von der Handlung zu trennen und als solche erkennbar. Die Figuren sind keine Personen, mit denen sich der Leser identifizieren kann. Sie stellen Typen dar, reduziert auf eine einzige Eigenschaft: der Arzt, die Frau des Arztes, der erste Blinde, die Frau des ersten Blinden, die junge Frau mit der Sonnenbrille, der schielende Junge, der Alte mit der Augenklappe oder die Blinde, die nicht schlĂ€ft.
Doch das ebenso verstörende wie faszinierende Szenario und Saramagos knappe und prĂ€zise Sprache lassen den Leser die stilistischen Zumutungen schnell vergessen. âDie Stadt der Blindenâ ist ein beĂ€ngstigender und sehr eindringlicher Roman, dessen Wirkung auch nicht durch das reichlich abrupte Ende, das kaum ErklĂ€rungen liefert, geschmĂ€lert werden kann.