Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
Am Rand des Waldes findet Bernhardt das Ende eines Seils. Woher das Seil kommt, wer es ausgelegt oder verloren hat und wohin es führt, ist nicht klar. Aber diese Fragen beschäftigen Bernhard, der bis dahin zufrieden war mit seinem Leben, mit seiner Frau und der kleinen Tochter. Eigentlich muss er die Ernte einfahren, aber gemeinsam mit Michael und Reimund macht er sich auf den Weg, das andere Ende des Seils zu finden.
Als die Männer erfolglos zurück kehren, entschließen sich alle Männer des Dorfes, einschließlich des Dorflehrers Rauk, auf eine unbestimmte Reise zu gehen, immer dem Seil entlang, inzwischen völlig in den Bann des Rätsels um das Seil geraten.
Zurück bleiben die Alten, Frauen, Kinder, ein Verletzter und ein zufällig ausgewählter Mann, der die Frauen beschützen soll.
Stefan aus dem Siepens Geschichte spielt in einem abgeschlossenen Dorf in vorindustrieller Zeit. Die Bewohner kennen kaum andere Dörfer, verlassen ihre Zuhause nicht und leben im Rhythmus von Aussaat, Ernte, Geburt und Tod. Das Unbekannte, das in Form des Seils in die Gemeinschaft eindringt, ängstigt und lockt die Menschen, es führt dazu, den gewohnten Rhythmus aufzugeben.
Für die Zurückgebliebenen führt das in die existentielle Katastrophe.
Für die Männer, die ausgezogen sind, um das Rätsel zu lösen, ändert sich nach und nach die Hierarchie in der Gruppe, der durch seine Behinderung gezeichnete Dorflehrer gewinnt an Führungskraft und Respekt.
Warum folgen sie dem Seil und lassen das Dorf im Stich? Warum kehren sie nicht um? Die Männer können das Seil nicht sich selbst überlassen, es nicht einfach abschneiden, zu groß ist das Verlangen, dieser Verlockung zu folgen. Auch Unglücksfälle bringen sie nicht zur Vernunft, der „Ausbruchsversuch“ einer kleinen Gruppe aus der Expedition scheitert. So bringt die Suche die Männer unter anderem zu einem mysteriösen, verlassenen Dorf, das dem ihren gleicht. Kein Mensch lebt mehr dort, es wurde aber offenbar nicht übereilt verlassen, denn die Häuser sind aufgeräumt. Die Gruppe plündert das Dorf, ein Ausbruch von Gewalt und Gier, dem sich der Einzelne nicht widersetzen kann.
Die durchdringende Sprache, durchsetzt mit Mundart, fängt den Leser genau so ein, wie das Seil die Männer verführt. Das Ende des Buches ist dann das nächste Rätsel , es sei denn, man hat das Herz und den Mut, mit Zuschlagen des Buches die Handlung einfach zu kappen.
Tatsächlich lässt der Text den Leser nachdenklich zurück – mit der Frage, welche Verlockung in den dunklen Wald führt und welche Entscheidung zu welcher Zeit zu treffen sein müsste. Und wie ein Märchen kann der Roman sofort ein zweites Mal gelesen werden, so schön, so tiefsinnig, so märchenhaft schrecklich ist er.
Stefan aus dem Siepen: Das Seil.
dtv, Juni 2012.
180 Seiten, Taschenbuch, 14,90 Euro.