Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
Ruth Klüger (ja, die mit dem Kindle beim Bachmann-Preis), hat einmal in der »Welt« geschrieben, es gäbe zwei Möglichkeiten für den historischen Roman, sich der Vergangenheit zu nähern. Die eine wäre, dem Leser die Historie durch Eintauchen in die beschriebene Zeit nahe zu bringen, die andere läge darin, die Geschichte als Annäherung der Lebenden an die Toten zu konzipieren. Lena Johannson hat die zweite Möglichkeit gewählt.
Esther lebte im 13. Jahrhundert in Lübeck, der aufstrebenden Hansestadt. Sie führt ihrem Bruder Kaspar, einem Schreiber, Haus und Werkstatt und versteht sich auf mehr als nur auf das Tintenmischen. Verlobt ist sie mit dem Kaufmann Vitus, dem jedoch das Geld für die Heirat fehlt. Zufällig erfährt Esther, dass der Rat der Stadt versuchen will, dem Kaiser eine Urkunde sagen wir mal unterzuschieben, die der Stadt Lübeck endlich die Rechte und Privilegien einräumt, die ihr nach Meinung ihrer Einwohner zustünden. Esther kommt schnell auf den naheliegenden Gedanken: Warum nur der Stadt Lübeck? Könnte man die Urkunde nicht noch um einen winzigen Passus erweitern, in dem den Kaufleuten Sonderrechte eingeräumt würden, die insbesondere einem bestimmten Kaufmann das Leben deutlich leichter machten?
Christa lebt im 20. Jahrhundert ebenfalls in Lübeck, aber gerade hat es sie nach Köln verschlagen. Das Entsetzen um den Einsturz des Stadtarchivs ist noch frisch und sie opfert ihren Urlaub, um bei der Bergung der noch zu rettenden Dokumente zu helfen. Dabei stößt sie auf ein Testament, in dem Esther, ein großer Betrug zu Gunsten der Stadt Lübeck und ein Mord erwähnt werden. Sie beginnt, Nachforschungen anzustellen, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Der Roman stellt verschiedene Perspektiven getrennt nebeneinander. So wird nicht nur aus der Sicht von Esther und Christa, sondern auch aus der von Vitus, Kaspar und einigen anderen erzählt. Die recht kurzen Abschnitte mit jeweiligem Perspektivwechsel machen den Roman gut lesbar. Weniger gelungen fand ich allerdings die Verknüpfung von Gegenwart und Zukunft. Die beiden Frauenschicksale ähneln sich weder, noch kontrastieren sie, unbeantwortet bleibt die Frage, was sie eigentlich über den Zufall der Überlieferung hinaus miteinander zu tun haben. Hier wurde meiner Ansicht nach viel literarisches Potential verschenkt. Dazu bleibt Christa eine blasse, flache Figur, der außer einer Liebesgeschichte und dem Fund der Urkunde auch nicht viel wiederfährt. Was hätte das für eine Geschichte werden können, wenn die Autorin eine Möglichkeit gefunden hätte, auch sie noch in einen Betrug um eine gefundene Urkunde zu verwickeln. Zugutezuhalten ist ihrem Teil der Geschichte, dass er dem Leser nahebringt, was in Köln alles verlorenging und mit wie viel Liebe und Mühe versucht wird zu retten, was zu retten ist. Leider bleibt viel zu farblos, warum diese Rettung für uns und für die Zukunft wichtig ist.
Der historische Teil des Romans ist gut gelungen, mit Schicksalen, wie man sie von dem Genre erwartet. Es gibt einen Krimi-Strang (klar, es handelt sich um Betrug und Mord), der mit seinen vielen sichtbaren und unsichtbaren Handschrift nicht nur auf die Protagonisten verwirrend wirkt, jedoch sauber aufgebaut ist und in sich logisch.
Fazit: Der Versuch, Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verknüpfen ist als literarisches Experiment wirklich interessant, darüber hinaus ist das Buch gut lesbar und verspricht einen unterhaltsamen Nachmittag.
Lena Johannson: Die unsichtbare Handschrift.
Knaur, Mai 2012.
464 Seiten, Taschenbuch, 9,99 Euro.