Hinter diesem eher allgemein-weiblich gehaltenen Titel verbirgt sich ein unerwartetes Juwel von Buch über die anti-papistische Reformationsbewegung in Europa etwa hundert Jahre vor Martin Luther.
Der Roman beginnt 1410 in Prag, das zum Königreich Böhmen gehört. Die Buchkopistin Anna lebt dort mit ihrem Großvater, der im Kreis um den Kirchenreformer Jan Hus Bibelübersetzungen in die Landessprache und auch in die englische Sprache anfertigt. Das ist damals dort, wie im übrigen Europa, nicht erlaubt.
Annas Verlobter wird hingerichtet, weil er Ablassbriefe der Kirche öffentlich verbrennt, kurz darauf stirbt auch ihr Großvater und sie muss Prag verlassen. Gemeinsam mit pilgernden Zigeunern reist sie Richtung England, da ihr Großvater ihr dort einen Adligen genannt hatte, bei dem sie Schutz suchen will: den Empfänger der in Prag angefertigten verbotenen Schriften. Dieser Adelige ist Sir John Oldcastle, Vertrauter des englischen Kronprinzen Henry, Ritter und bekennender Lollarde, also ein Anhänger des englischen Bibelübersetzers und Kirchenreformers John Wyclif.
Die Lollarden werden zu jener Zeit in England als Ketzer verfolgt, da sie dafür plädieren, dass jeder die Bibel lesen und verstehen solle. Es ist auch eine politische Frage, da viele der Teilnehmer des großen Bauernaufstandes der 1380-er Jahre sich direkt auf die Bibel berufen und Kirchenlehre und Adelstum hinterfragt hatten. Erzbischof Arundel von Canterbury ist als einer der gnadenlosesten Lollardenverfolger bekannt. Er schickt den Mönch und Priester Gabriel nach Frankreich, um die Quelle der Flut von englischen Bibeln, die ins Land kommen, ausfindig zu machen. Er vermutet den Ursprung der Schriften auf dem Kontinent. In Reims trifft Gabriel auf Anna, der er sich als Kaufmann, anstatt korrekt als Priester, vorstellt. Nur deswegen können die beiden sich näherkommen.
Anna ist die Titelheldin des Romans, doch es ist Gabriel, der die Handlung vorantreibt und der sich in ihrem Laufe verändert. So ist der Titel der englischen Originalausgabe "The Mercy Seller" wunderschön mehrdeutig und treffender als der deutsche Titel, der diejenigen Leser historischer Romane, die die starken, schönen, freien, aufgeklärten Titelheldinnen allmählich leid sind, eher abschrecken kann. Das hat das Buch aber ganz und gar nicht verdient. Es bietet einen breiten Einblick in die Problematik der Lollardenverfolgung, zeigt die Standpunkte der Kirche und der Krone, ohne mit Fachwissen zu überfrachten. Anhand von Gabriels Erfahrungen zeigt es genial verständlich, was die Lollarden an der Kirche mit ihren Vorschriften und Halbwahrheiten und auch ihren fehlbaren Dienern abstößt. Viele der vorkommenden Personen sind historisch verbürgt, wie Oldcastle oder Henry V.
"Die Schriftenhändlerin" ist ein komplexer Roman ohne Schwarz-Weiß-Malerei. Es ist bereits der zweite Band der Geschichte, die mit den Erlebnissen von Annas Großvater Finn in England begann, bei dem ich mich frage, wie mir bloß der erste Teil entgehen konnte.
Brenda Vantrease: Die Schriftenhändlerin.
Limes, September 2007.
607 Seiten, Hardcover, 19,95 Euro.