Paul Felix Schlesinger: Der Mensch, der schießt (1926)
Wenn Menschen ihre Arbeit verlieren, die Inflation die Spargroschen aufzehrt, verändern sich auch die vor Gericht ausgetragenen Streitigkeiten. Diebstahl, Rufmord, Beleidigungen oder Mord. „Der Mensch, der schießt, ist ebenso unschuldig wie der Kessel, der explodiert ... “, so heißt es gleich in der Vorbemerkung zu einer großen Anzahl von Berichterstattungen aus den Berliner Gerichtssälen der 1920er Jahre.
Manche sind aus heutiger Sicht kaum noch vorstellbar. Da wäre zum Beispiel ein junger Anwalt, der bei einer alten Dame zur Untermiete wohnt. Als diese stirbt, darf er weiter in der Wohnung bleiben, wenn er einen neuen Vermieter findet. Dieser findet sich, hat aber ganz andere Vorstellungen vom Zusammenleben als seine Vorgängerin. Eine im Flur hochgezogene Mauer versperrt dem Untermieter den Zugang zur Toilette. Oder ein Mann stellt in einem verwahrlosten Vorgarten seinen Trödel aus, weil sich die kleinen Fenster seiner Kellerwohnung nicht als Ausstellungsfläche eignen. Etwa zehn Jahre kann er auf diese Weise sein Geschäft betreiben, bis ihm ein neuer Schutzpolizist den Handel verbietet. Die Entscheidungsfindung vor Gericht dauert länger als der Mann finanziell verkraften kann.
Die Sammlung über bürgerliche und politische Fehlleistungen wird von Paul Felix Schlesinger in einer gewählten Sprache, teilweise mit Ironie und Sprachwitz offenbart. Dass Recht und Gesetz nicht immer passen, wird ebenfalls deutlich. Zumal persönlich empfundene Ungerechtigkeiten selten im Einklang mit einer Rechtsprechung stehen, die allein die Wahrung der öffentlichen Ordnung in den Vordergrund stellt.
Eine Frau überredet bei Kaffee und Kuchen ihre Nachbarn, Lappalien zu bezeugen, die sie gar nicht wissen können. Als notorische Kundin bei Gericht braucht sie für viele Streitigkeiten viele Zeugen, die dann unweigerlich zu einer eidesstattlichen Versicherung genötigt werden. Auf Meineid steht Zuchthaus. Die neuen Regelungen bei Gericht sorgen wiederum für viele Meineidsprozesse, die wiederum Zeugen benötigen, die ebenfalls genötigt werden, das eine oder andere unter Eid zu bezeugen. Recht und Gesetz bekommen vor diesem Hintergrund im Berlin der 1920er Jahre einen besonderen Beigeschmack. Der 1878 in Berlin geborene Autor Paul Schlesinger, genannt Sling, kommentierte über viele Jahre die Prozesse und wurde dabei als Gerichtsreporter berühmt.
„... Man muss sich an den Kopf fassen und sich fragen, ... daß der ganze Apparat des Schwurgerichts ... dafür aufgewendet wurde, um die Verhältnisse der Familie E. klarzustellen! Dies in einer Zeit, die wir als die Zeit der Not bezeichnen, dies an dem Tage und in der Stunde, an dem das Zeppelin-Luftschiff siegreich den Ozean überquert hat. Man wird dann vielleicht fragen, ob sich denn keine Stimme gegen diesen unrühmlichen Unfug erhoben habe - und man wird die eine verschollene Stimme eines bescheidenen Gerichtsberichterstatters nicht mehr hören.“ 16.10.1924 S. 341)
Paul Felix Schlesinger: Der Mensch, der schießt (1926).
Lilienfeld Verlag, Juni 2013.
399 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,90 Euro.