Unsere Literaturzeitschrift Schreib-Lust Print bietet die neun besten Geschichten eines jeden Quartals aus unserem Mitmachprojekt. Dazu Kolumnen, Infos, Reportagen und ...
â... In diesem Moment hat er eine kurze Vision davon, wie und wo er sterben wird. Keine detaillierte Szene, eher lose Bilder, die sich zu einem klaren Muster zusammenfĂŒgen. Es ist nicht das erste Mal, das er sich seinen Tod vorstellt. Er tut das regelmĂ€Ăig und ist sich ziemlich sicher, dass alle anderen es auch tun. Aber diesmal ist es anders. Er reiĂt ein Blatt aus einem alten Kalender, den er als Notizblock benutzt, findet zwischen Obstschale und Zeitschriften einen Kugelschreiber und notiert ein paar Zeilen, darunter setzt er das Datum und seine Unterschrift. Sein Herz klopft. Er macht eine Dose Bier auf und ruft Bonobo an ...â (S. 179)
Die Geschichte beginnt mit dem abrupten Ende des ErzĂ€hlers. Der Neffe beschreibt den Tod wie ein unergrĂŒndliches Geheimnis. Und auch im ersten Kapitel beginnt die Geschichte mit dem Tod. Der Vater des ErzĂ€hlers wĂ€hlt den Freitod und erzĂ€hlt ihm kurz vorher von seinem eigenen Vater, der unter mysteriösen UmstĂ€nden in Garopaba gestorben sei. Zu seinem VermĂ€chtnis gehört auch die Bitte, seine HĂŒndin Beta einschlĂ€fern zu lassen.
Direkt nach der Beerdigung folgt der ErzĂ€hler zusammen mit Beta den Spuren seines verschollenen GroĂvaters und stöĂt bei den Bewohnern auf Schweigen und Ablehnung. Nach vielen WiderstĂ€nden findet er direkt am Meer eine kleine Wohnung. Jedem erzĂ€hlt er, er wolle nichts weiter, als auf das Meer hinaussehen und schwimmen. Als er die Ă€lteren Bewohner nach dem Gaucho befragt, der 1969 in Garopaba gelebt habe und dessen Enkel er sei, wird die allgegenwĂ€rtige Ablehnung ein eisiges Schweigen. Gleichzeitig wird der Kontakt zu den Bewohnern durch die UnfĂ€higkeit des ErzĂ€hlers erschwert, Gesichter wiederzuerkennen. Diese besondere Form der Behinderung macht es ihm unmöglich Freund oder Feind zu erkennen. FĂŒr manche Mitmenschen ist der ErzĂ€hler wie ein gefundenes Fressen.
In dem Roman âFlutâ hat alles seinen besonderen Rhythmus. Alles scheint sich zu wiederholen wie die Wellen und die Gezeiten. Szene um Szene baut sich langsam wie eine Welle auf. Manche brechen auf, andere rollen sanft ans Ufer. Die Liebe zum Wasser und zum Schwimmen ist immer wieder spĂŒrbar. Auch wenn der Autor Daniel Galera mit Namen und biografischen Details sparsam umgeht, wird sein ErzĂ€hler ein komplexer, geheimnisvoller Mann, der nach seiner eigenen Lebensphilosophie lebt. Themen wie Vergeben, Schuld, freier Wille und Schicksal werden auf sehr persönliche Weise verarbeitet und in die brasilianische Lebensweise eingebettet.
Der 1979 geborene Daniel Galera beschreibt sein Heimatland wie ein Liebender, der versteht, verzeiht und trotzdem genau hinsieht, wenn das Zwischenmenschliche nicht funktioniert. Sein ErzĂ€hlstil verzichtet auf dramaturgische Kapriolen. Er nimmt sich die Zeit fĂŒr AusfĂŒhrlichkeit, ohne am Detail zu kleben oder der Fantasie den Raum zu nehmen. Das Augenscheinliche bekommt so beilĂ€ufig einen doppelten Boden, dass man sich mitunter verwundert die Augen reibt.
Daniel Galera: Flut.
Suhrkamp, August 2013.
425 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,95 Euro.