Titus Müllers neuer Roman spielt diesmal im mittelalterlichen München. Hauptfigur ist Kaufmann Neuhauser, genannt Nemo. Zumindest ist Nemo 1356 ein angesehner Kaufmann. Aber bereits nach den ersten Seiten holt ihn die Vergangenheit des Jahres 1336 ein, als er noch nur Nemo war, ein Niemand. Sein größtes Kapital ist die Kunst sich zu verstellen und zu verkleiden, die ihm bisher half zu überleben und die er im Laufe der Jahre perfektioniert hat. Als er auf Amiel von Ax trifft, einen Vertreter der „Kirche der Vollendeten“, will der ihn für seine eigenen Zwecke missbrauchen und macht ihm Hoffnung, endlich das dunkle Geheimnis seiner Herkunft lüften zu können. Für ihn muss Nemo in immer neue Rollen schlüpfen, um Amiels hohe Ansprüche zu erfüllen. Amiel ist ein „Perfectus“ und Perfektion ist auch das Ziel seines Lebens. Nur als perfekter Mensch meint er vor Gottes Gericht bestehen zu können und er arbeitet hart daran.
Amiels größte Stärke ist jedoch seine Intelligenz und sein Charisma, mit dem er halb München auf seine Seite zieht und im Duell des Intellektes sogar gegen den großen englischen Denker William von Ockham als Gewinner vom Platz zieht. Ein wunderbares Beispiel für frühe Massenmanipulation. Titus Müller bietet ganz nebenbei einen tollen Einblick in die Arbeiten des William von Ockham, der als William von Baskerville bereits in die moderne Literatur eingegangen ist. Hier diskutiert er herrlich ungezwungen mit jedem, er sich auf eine Diskussion einlässt, egal ob Nemo oder Gelehrter.
Aber auf Dauer lässt sich Amiels Perfektionismus-Anspruch nicht aufrechterhalten und schließlich muss auch er das erkennen. Nur langsam und als Letzter in diesem Roman begreift er das große Mysterium von Gottes Vergebung.
Nemo gerät mitten in diese Selbsterkenntnis und die für halb München ausgesprochen schmerzhaften Folgen. Ständig muss er sich, der immer nur auf sich allein gestellt war, zwischen seinem eigenen Wollen und dem was richtig ist entscheiden. Und dazu kommt, dass es zum ersten Mal in seinem Leben Verantwortung für das Wohlergehen anderer Menschen trägt.
Sehr gut gefallen hat mir die Schilderung von Nemos Geliebter Adeline, wie sie als Hofdame verschüchtert in die Welt blickt und sich mit jedem Kapitel ein Stück mehr davon erobert, weil ihr gar nichts anders übrigbleibt. Ihrer Tochter wird es 30 Jahre später ähnlich ergehen.
Der Roman bietet einen herrlich unterhaltsamen Einblick in das mittelalterliche München und seine Bewohner, ob Kaiser oder Knecht. Eines der Bücher, die ich eigentlich nur mal eben anfangen wollte und dann bis zum Ende nicht mehr zur Seite legen konnte.
Titus Müller: Das Mysterium.
Rütten und Loening, August 2007.
461 Seiten, Hardcover, 19,95 Euro.