Das mit 328 Seiten dickste Buch unseres Verlagsprogramms ist die Vampiranthologie "Ganz schön bissig ..." - die 33 besten Geschichten aus 540 Einsendungen.
Max Aue, durch seine französische Mutter teilweise in Frankreich aufgewachsen und in Deutschland zum Dr. jur. ausgebildet, hat sich nach dem Krieg als Franzose nach Frankreich absetzten können und führt dort ein ruhiges Leben als Chef einer Firma, die Spitze herstellt. Aus gesellschaftlichen Gründen, nicht aus Liebe, hat er geheiratet und hat zwei Kinder. Er wurde nie behelligt, nie für seine Taten verfolgt. Doch seine Erinnerungen plagen ihn, er sieht immer wieder Gräuelbilder, leidet unter Alpträumen und schubweisem Erbrechen, schon seit dem Krieg, daher schreibt er seine Memoiren, um sich selbst über seine Vergangenheit klar zu werden, er kotzt die Worte beinahe so unhaltbar heraus wie das Essen. In beklemmender Ausführlichkeit berichtet er vom Russlandfeldzug, von der Vernichtung ganzer Dörfer, vor allem der systematischen Judenvernichtung, an der er teilnahm, obwohl er es immer für „Verschwendung“ hielt. Bei einer dieser „Säuberungsaktionen“ ist er zum ersten Mal ausgetickt und wurde in die Krim geschickt zur Erholung, doch geheilt wurde er nicht.
Natürlich ist er klüger als viele der Verantwortlichen, er erkennt schon früh, dass der Russlandfeldzug scheitern muss, an mangelnder Vorbereitung, mangelndem Material, er hat es immer gewusst. Er steht immer ein wenig abseits, der Intellektuelle, der an den Späßen der Kameraden keinen Gefallen findet, sogar einschreitet, wenn diese bei den Hinrichtungen wahllos Menschen quälen.
Wer ist dieser Obersturmbannführer Max Aue, der seine Kapitel mit musikalischen Bezeichnungen wie „Allemande, Toccata, Sarabande“ etc. überschreibt und ganz am Anfang ein seitenlange Berechnungen anstellt, welche Völker im Krieg wie viele Tote pro Tag, Stunde, Minute zu beklagen haben?
Er wäre gern Klavierspieler geworden und bekniet als Kind seine Mutter um ein Instrument und Unterricht. Ob sie sich prostituieren musste, um es zu bezahlen, fragt er sich Jahre später, doch das ist ihm egal. Als ihm seine Fortschritte nicht schnell genug gehen, gibt er auf und wirft seiner Mutter vor, ihn nicht dazu gedrängt zu haben; ja, sie ist Schuld, dass er kein berühmter Pianist werden konnte. Das zieht sich wie ein roter Faden durch seine Memoiren, nie ist er Schuld, immer sind es die anderen, die Umstände, er hat schließlich auch nur seine Pflicht getan. Er ist ein Mann wie die Leser, die er anspricht, dies betont er so oft, dass man das Gefühl bekommt, er versuche sich das mit Gewalt einzureden. Philosophie und Literatur wollte er studieren, zitiert ständig Philosophen und Schriftsteller, selbst im Feldzug, statt dessen wurde er Jurist.
Einmal im Leben hat er eine Frau geliebt, die er nicht haben durfte, seine Zwillingsschwester Una, zu der er eine inzestuöse Beziehung unterhielt, bis sie auseinandergerissen wurden. Er wäre selbst gerne eine Frau gewesen und hat seit der Jugend, seit seiner Zeit im Internat Liebschaften mit jungen Männern. Er ist überhaupt nur in die SS eingetreten, um einer Verfolgung wegen Verstoß gegen den Schwulenparagraphen zu entgehen.
Littells Absicht mit diesem Roman war, so sagt er in Interviews, das Innenleben eines zum Mörder gewordenen Kriegsteilnehmers darzustellen. Doch gerade das wird erschwert, denn Aue ist zu sehr eine Kunstfigur. Er wirkt, als hätte Littell ihm alle möglichen Täterfacetten einbauen wollen. Der Intellektuelle, der die Judenfrage effizienter gelöst hätte, der Leidende, dem die Gräuel die Verdauung ruiniert haben, der Homosexuelle, der sich in analerotischen Fantasien ergeht und mit jungen Männern austobt. Der Leser kann sich zurücklehnen und sagen: Der ist so verrückt, den kann ich gar nicht ernst nehmen als Täter, daher muss ich mir keine Gedanken machen, wie und warum so viele zu Mitläufern und ohne pathologische Störungen zu Massenmördern wurden. Und so setzt Littell immer noch eins drauf, bis die Figur nur noch unglaubwürdig ist: Inzest, Ermordung der Mutter, ganz am Schluss beißt er gar Hitlerdrei Tage vor dessen Tod im Führerbunker in die Nase (zumindest in der deutschen Übersetzung, diese Szene wurde im französischen Original in der ersten Ausgabe verändert). Meines Erachtens hätte dieser Roman aus Tätersicht erheblich mehr Wirkung, wäre die Hauptfigur ein normaler Mensch, der peu à peu vom System verroht und verdorben wird, einer solchen Entwicklung würde der Leser mit Entsetzen folgen.
Fundiert recherchiert, langweilt Littell aber mit seitenlangen Abhandlungen beispielsweise über die Linguistik der kaukasischen Völker, jedes recherchierte Detail musste untergebracht werden, ob es für den Fortgang der Geschichte wichtig ist oder nicht. Gerade in diesen Passagen fällt es schwer, sich zum Weiterlesen zu animieren.
Das Buch wimmelt von Nebenfiguren, die zu zahlreich sind, um den Überblick zu behalten, auch sind sie kaum charakterisiert. Die Militärs werfen mit ihren Befehlen um sich, viele bekannte Namen haben einen kurzen Auftritt. Was die Sprache anbetrifft, frage ich mich (ich habe es im Original gelesen), wie die Franzosen das Buch verstehen konnten, da es von deutschen Wörtern durchsetzt ist und der Verlag ein Glossar einbauen musste, weil der Autor sich nicht die Mühe machte, die Begriffe zu erklären. Littell erzählt in epischer Breite und mit wuchtigen Bildern, was gerade bei den Tötungs- und Folterszenen stellenweise unerträglich wird.
„Muss“ man das Buch gelesen haben? Die Frage ist schwer zu beantworten. Sicher ist es ein mutiger Versuch, die Schrecken des zweiten Weltkriegs aus Tätersicht zu schildern, und da Littell ein Franzose mit jüdischen Wurzeln ist, gerät er nicht unter den Generalverdacht der Verherrlichung, auf die bei einem deutschen Autor sicher argwöhnisch gelauert würde. Andererseits hat er in meinen Augen durch die erheblich gestörte Hauptfigur die Chance verspielt, wirklich ernst genommen zu werden und eine ernste Diskussion anzuregen. Denn liest man ein wenig in Diskussionsforen, so geht es dort vorrangig um die pornographisch-voyeuristischen Elemente des Buches, eine echte Auseinandersetzung mit den Gründen der Schrecken des dritten Reiches wird so wieder einmal vermieden.
Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten.
Berlin Verlag, Februar 2008.
1385 Seiten, Hardcover, 36 Euro.