Zu Kafka- so glaubt mindestens eine der großen Strömungen der literaturwissenschaftlichen Forschung (welche sich außerhalb der Universitätsmauern leider großer Beliebtheit erfreut) - findet man nahezu ausschließlich dann Zugang, wenn man ihn biographisch liest. Der Autor, so die Verfechter des biographischen und des psychoanalytischen Ansatzes, setze sich schreibend mit seinen großen Lebensthemen auseinander und derer gibt es einige:
- die Wurzellosigkeit und Entfremdung eines deutschsprachigen Juden im tschechischen Prag,
- die Hoffnungslosigkeit auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, den er anfangs weder in den Traditionen seiner Religion, noch überhaupt irgendwann in der Ausübung seines Berufes als Angestellter einer Versicherungsanstalt findet
und
- die problematischen, Komplex behafteten Beziehungen zu sowohl Vater Hermann als auch dem anderen Geschlecht.
Natürlich, dass Kafka sich zeitlebens mit diesen Problemen auseinander setzte, ist ein Faktum, sein Werk jedoch einzig darauf zu dezimieren, ist nicht legitim. Es wird ihm nicht gerecht, denn Kafka nahm nicht nur seine Lebensthemen, sondern ebenfalls seine Künstlerexistenz sehr ernst.
Kafkas Briefe an Milena beleuchten all dies – seine Verzweiflung und sein Gefühl der Entfremdung, die Diskrepanz zwischen Berufsalltag und Künstlerdasein, seine Beziehung zu seinem sozialen Umfeld, seine Suche nach dem Sinn des Lebens- sprachlich sehr schön, kafkaesk eben, und stilisiert wie ein Roman, aber trotzdem genuin persönlich und real, authentisch und absolut biographisch.
Kafka lernt die verheiratete Journalistin Milena Jesenká im Jahr 1919 kennen. Sie schreibt ihm einen Brief, möchte seine Erzählungen ins Tschechische übersetzen. Als sich die beiden im Jahr 1920 in persona kennen lernen, sind sie sich gleich sympathisch, erkennen im Gegenüber eine gewisse Seelenverwandtschaft. Sie beginnen, sich regelmäßig Briefe zu schreiben – der Beginn einer wunderbaren, 3-jährigen Liebesgeschichte, die fast ausschließlich „zu Blatt“ stattfindet.
Kafka pur- ein Dokument seiner inneren Zerrissenheit, seiner Verzweiflung, seines Strauchelns, seines Suchens. Gleichzeitig vor allem auch bei ausgesprochenen „Kafka-Hassern“ sehr beliebt, denn in diesen Zeilen wird der echte, reale Mensch Kafka sichtbar, der, mit dem man mitempfindet, in den man hineinschaut, den man hier so sehr erkennt wie man ihn mit dem Filter aller biographischen oder psychoanalytischen Interpretationsansätzen in seinen Prosatexten niemals erfassen und verstehen könnte.
Franz Kafka: Briefe an Milena (1952).
Fischer Tb., 1991.
423 Seiten, Taschenbuch, 12,90 Euro.