Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
Tim Köhrey ist sechs, als ein Geisterfahrer ihn zur Vollwaise macht. Er kommt zu einer Familie nach Hannover, doch die Atmosphäre dort ist recht kühl, zwischenmenschliche Wärme ein Fremdwort und sein Pflegevater ein kontrollsüchtiger Polizist, der selbst seinen Kollegen auf den Geist geht und schließlich nach Berlin versetzt wird. Dort entdeckt Tim seine Liebe zur Musik und gewinnt gleichgesinnte Freunde. Mit seinem bestem Freund, dem dicken Michael, genannt Kuhle, legt er auf Schul-und anderen Feten auf. Wegen der Namensähnlichkeit mit dem legendären Rocky-Horror-Darsteller Tim Curry nennt er sich „DJ Frankenfurter“. Es sind die Achtziger, und man muss schon „Coole Tapes“ haben, um die Mädels zu beeindrucken. Dies gelingt ihm bei Melanie, und das Leben scheint eine einzige Party. Doch plötzlich ist alles kaputt: Melanie verlässt ihn, Kuhle gerät in einen üblen Verdacht und verschwindet, Tims Pflegefamilie bricht auseinander. Um Geld zu verdienen, tourt er als DJ durch die westdeutsche Provinz und bleibt schließlich in einem Kaff in Niedersachsen hängen, mit einem Kind und einer ungeliebten Ehefrau. Erst als er erfährt, dass dieses Kind nicht von ihm ist, bringt Tim den Mut auf, noch einmal aufzubrechen nach Berlin, um seine alten Freunde zu suchen. Die Zeiten haben sich geändert, das einst beschauliche Nischen-Berlin befindet sich im Wende-Rausch, als DJ macht Tim sich lächerlich. Seine früheren Freunde haben es sich in schicken Eigentumswohnungen gemütlich gemacht, und Tim merkt allmählich, dass nichts mehr wie früher sein wird...
Der aktuelle Roman des Berliner Autors hat ähnliche Themen wie die zwei früheren „Radio Nights“ und „Idiotentest“: Kindheit und Jugend in den 70er/80er Jahren, Liebe und Freundschaft, Erwachsenwerden und Verlust von Illusionen und Suche nach einem verloren geglaubten Lebensgefühl. Auch die Musik spielt wieder eine zentrale Rolle: am Ende jedes Kapitels wird der jeweilige Nr.1-Hit der Zeit zitiert, in der es spielt.
„Geisterfahrer“ ist nachdenklicher als seine Vorgänger, ein melancholischer Grundton zieht sich durch Tims Geschichte, der Titel ist programmatisch: Lange scheint er in die falsche Richtung abzudriften, ohne es zu merken. Das Leben „passiert“ ihm, ohne dass er selbst bestimmt, wo es langgeht. Und als er es merkt, ist es fast zu spät- doch am Ende gibt es ein Wiedersehen und ein wenig Hoffnung auf einen Neubeginn.
Ein Buch der leisen Töne, flüssig erzählt, mit glaubwürdigen Figuren, die trotz aller Schwächen menschlich bleiben.
Tom Liehr: Geisterfahrer.
Aufbau, Januar 2008.
329 Seiten, Taschenbuch, 8,95 Euro.