Mit Leichen ist Ingrid Noll in ihren neuen Roman sparsam. Im „Kuckuckskind“ gibt es mehr Vaterschaftstests als Leichen. Die 72-jährige Altmeisterin der Kriminalliteratur erzählt mehr eine Liebesgeschichte und löst Familienprobleme mit der von ihr gewohnten feinen, psychologischen Raffinesse.
Die Geschichte über eine betrogene Ehefrau und das Waisenbaby Victor ist eines von Ingrid Nolls schönsten Büchern. Eine Lehrerin wird zur Miss Marple – nur die Leiche fehlt bis kurz vor Schluss.
Ein Häuschen mit Garten, Mann und zwei Kinder hat sich Nolls Heldin Anja, eine Enddreißigerin, gewünscht. Als sie der Mann betrügt, spielt sie Sudoku zur Beruhigung und bis zum Exzess, bis eine Kollegin zunächst deren Mann und dann ihr ein Kuckuckskind ins zerstörte Familiennest legt. Wechselnde Liebeskonstellationen und viel Misstrauen geben dem Roman Spannung, dass man die Leichen zunächst gar nicht vermisst. Mehr den Geheimnissen und Heimlichkeiten der Lebenden als denen der Toten spürt Ingrid Noll nach – natürlich mit dem von ihr gewohnten überraschenden und dann doch so naheliegenden Ende.
Hochspannend wird das Buch auf den letzten Seiten, vorher ist es eine humorvoll geschriebene Geschichte von gescheiterten Lebensträumen und der Suche nach neuem Glück. – Ein zauberhafter Roman.
Ingrid Noll: Kuckuckskind.
Diogenes, Juli 2008.
352 Seiten, gebundene Ausgabe, 21,90 Euro.