"Simon war ein Mann von überdurchschnittlicher Intelligenz, die durch jahrelange extensive und intensive Lektüre geschult war, ein Mann mit nicht unangenehm anzuschauenden Gesicht und einer gewissen Empfänglichkeit für die machtvollen Winde und schwachbrüstigen Brisen, welche die Welt bewegen, ein Mann, der sensibel war, nicht nur für die Nöte der Masse Mensch, sondern auch für das Leiden des Mannes, der in Hemdsärmeln zur Mittagszeit über die gefallenen Blätter im Stadtpark schlendert, der verzweifelt versucht, bei jedem schwachen, schüchternen Atemzug seine eigene lauwarme Bedeutungslosigkeit in Schach zu halten". Kann ich die Hauptperson dieses Romans besser beschreiben als er sich selbst? (bzw. durch den Autor Elliot Perlman?) Dieses Zitat findet sich auf Seite 587 dieses Wälzers, der bei 861 Seiten endet und zumindest den Anspruch erhebt, ein großartiger Gesellschaftsroman zu sein.
Wir kennen die Lichtgestalten der vergangenen (literarischen) Epochen. Goethes "Werther": ein intelligenter, hochsensibler, schwärmerischer junger Mann - schreibt im ausgehenden 18. Jahrhundert seinem Freund Wilhelm Briefe, in denen er ihm sein Seelenleben öffnet, seine Begeisterung über Liebe und Natur, und nicht zuletzt seine Verzweiflung über die Aussichtslosigkeit der Liebe und über gesellschaftliche Zurücksetzungen. Werther verliebt sich in Lotte, (bei Perlman Anna) die zumindest seine Liebe für Literatur und Lyrik erwidert. Holden Caulfield, der "Fänger im Roggen" von Salinger, auch ein Mensch der an den gesellschaftlichen Verhältnisses zerbricht und nicht zuletzt Kleists Michael Kohlhaas, der durch seinen verzweifelten Kampf gegen das System riskiert, alles zu verlieren, was ihm wertvoll ist.
Sie alle mögen Vorbild sein für die Gestalt Simon Heywood, die Elliot Perlman mit großer Sensibilität zeichnet. Er wird nicht müde, die oben beschriebenen Eigenschaften immer wieder Simon zuzuordnen, aber wer das ganze Buch, also die sieben Seiten der Wahrheit verstehen will, der sollte vielleicht folgendes Konstrukt verfolgen:
Nehmen wir an, es gäbe eine Familie (alles fiktiv) mit einem Vater, Mutter, zwei ältere Geschwister, sagen wir 20 und 22 Jahre und einen Nachzügler mit Down-Syndrom. Dieser stirbt im Alter von 18 und alle Beteiligten schreiben nun ihre (ehrliche) Befindlichkeit auf. Der Vater beklagt sich, dass er, seit der behinderte Sohn auf die Welt gekommen ist, keinen Sex mehr mit seiner Frau hatte; diese, voller Schuldgefühle, kümmert sich obsessiv um den behinderten Sohn und lässt vor allem in der Pupertät ihre Tochter aus den Augen, die jetzt zugibt, nach so langer Zeit der familiären Tyrannei, froh zu sein, dass der junge Bruder tot ist; der älteste Sohn ist auf die schiefe Bahn geraten, hat ein Drogenproblem und hasst den Vater und dessen junge Geliebte bis aufs Messer, weil er ihm an allem die Schuld gibt. Dann gäbe es, nehmen wir weiter an, noch einen Familientherapeuten, der aber insgeheim hofft, die durchaus noch attraktive Mutter, noch mal aus erotischer Sicht zu gewinnen. In einzelnen Kapiteln schreiben also alle ihre Sichtweise dieses Familiendramas auf, berücksichtigen Zeiten und gesellschaftliche Hintergründe und wir fügen das zusammen zu einem Buch. Tja, warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?
Bei Perlman ist der auslösende Focus eine Art Entführung, um die sich eigentlich alles entwickelt. Simon, ist die Zeit scheiß egal, er kann sich tagelang in seiner Wohnung einschließen und auf die Uhr starren, ohne dass ihm bewusst ist, dass "Zeit" vergeht. Nach zehn Jahren nutzt er eine Gelegenheit, zur Entführung des Sohnes seiner früher von ihm angebeteten Anna, die ihn wirklich seit zehn Jahren auch nicht mehr gesehen hat. Wie man nun ahnt, kommen nun viele Beteiligte ins Spiel, die alle dieses Drama aus ihrer Sicht beschreiben. Simons Psychotherapeut, Anna und ihr aktueller Mann Joe, dessen Arbeitskollege Mitch, eine verbindendes "Element" namens Angela (Prostituierte) und am Ende (etwas langatmig) noch die Tochter des Therapeuten, die so eine Art Klammer bietet, um das Buch "zusammenzuhalten". Alles in allem erinnerte mich das Buch an meine Begeisterung für John Updike (Rabbit) und Frantzen (Korrekturen). Auch mit Richard Fords "Die Lage des Landes" spielt das Buch durchaus in einer Liga. Allerdings bleibt am Ende des Tages ein eigentümliches "happy end" übrig, also etwas, was Goethe, Kleist oder Salinger nicht eingefallen wäre. Insofern doch keine Weltliteratur? Ich würde nicht ganz so weit gehen, aber das Buch empfehlen.
Elliot Perlman: Sieben Seiten der Wahrheit.
DVA, Februar 2008.
861 Seiten, Hardcover, 22,95 Euro.