„So ist das Leben. Man häuft Wissen an wie eine Elster, hört tausend Platten, liest ein Buch nach dem anderen, sieht Hunderte von Fernsehsendungen, blättert im Laufe des Lebens in Millionen von Zeitschriften, denkt nach, informiert sich, und dann stirbt man, und wenn man noch halbwegs klar ist, denkt man dabei bestimmt auch an all die verlorene Zeit“ (Seite 390, Proust lässt grüßen) Bitte jetzt nicht von diesem Zitat deprimiert sein. Das Buch ist ein ganz großer Schatz und wenn ich mir einmal anmaßen könnte, von Weltliteratur zu sprechen, würde ich dieses Buch dazu zählen.
Das Buch handelt von den Schmerzen der Zeit, von der Vergänglichkeit, von der Sinnlosigkeit des Daseins und ist gleichwohl eine philosophische Meisterleistung. Ich kann nur den Hut ziehen vor so viel Belesenheit, Weltklugheit und Erkenntnis.
Die „Hauptperson“ des Romans, der Architekt und Baulöwe Rubèn Bertomeo, jetzt weit in den Siebzigern, reflektiert sein Leben und hier vor allem sein Job als einer, der den Küstenstrich irgendwo zwischen Valencia und Almèria an der Mittelmeerküste so horrormäßig zu betoniert. Benidorm oder Torremolinos sind sicher die Topadressen dieser Landschaftsverbrechen, aber Rubèn versteht es, sich zu positionieren. Er zieht grade, pragmatische Konsequenzen in und aus seinem Leben und steht so meilenweit, weil durch diverse Umstände bei den anderen Protagonisten die Bodenhaftung fehlt, über den Dingen. Es macht ihn auch nicht unsympathisch, wenn er seinen Mann fürs Grobe, Roman Collado, durch einen fingierten Unfall, mafiös ausschaltet. Collado ist einer der großen Loser im Umfeld des Magnaten Bertomeo, ebenso wie sein früherer Kampf- und Weggefährte Frederico Brouard, der sich als schwuler Säufer, mit zweifelhaften literarischen Erfolgen, die Birne am Ende seines Lebens zudröhnt.
Warum Krematorium? Irgendwie sind alle auf dem Weg zu dieser Feuerbestattung, denn Matìas ist gestorben, der jüngere Bruder von Rubèn. Durch dessen Tod stellt sich alles in Frage und jeder reflektiert und muss sehen, wie er nun zurecht kommt. Sylvia, unglückliche Tochter von Ruben mit ihren schwachbrüstigen oder schon crackigen Kindern; Sylvias Mann Juan, eitler Literaturprofessor und Brouard, der suizidale Schriftsteller; keiner kann dem großen Rubèn Bertomeo das Wasser reichen. Außer vielleicht Monica, die Vertreterin des neureichen Spaniens, ausgestattet mit einer Vorliebe für Marken und teuren Nippes und über 40 Jahre jünger als Rubèn, erst seine Geliebte und jetzige Ehefrau. Zielsicher geht sie Ihren Weg, den alle nie wirklich gefunden haben und sie weiß genau wo, mit welchen Mitteln, sie z.B. Sylvia fertig machen kann.
Das alles vor dem Hintergrund, einer hitzedurchsiedeten, kaputten Küste, bei dessen Beschreibung es fast schon schwer fällt, zu atmen. Dazu noch die stetige, zunehmende Einflussnahme des russischen Geldes, das, wie wir wissen, unerschöpflich scheint. Verloren die Zeit der einsamen Strandspaziergänge mit tiefen, ruhigen Gesprächen, keine spanische Taverne mehr mit mediterraner Leichtigkeit – nur stickige, staubige Luft, erfüllt von Baggern und Raupen, die letzte Olivenhaine planieren um eine Illusion aufrechtzuerhalten: das Häuschen am Mittelmeer. Vergessen wir es. Der Roman ist prall, obsessiv und sexdurchtränkt. Der Roman ist hoch philosophisch hoch intellektuell. Der Roman ist eine Reise durch die Kunst-, Architektur und Musikgeschichte.
Der Roman ist einsame Klasse.
Rafael Chirbes: Krematorium.
Verlag Kunstmann, September 2008.
432 Seiten, Hardcover, 22 Euro.