Der Cousin im Souterrain
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Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Thomas Mann: Tonio Kröger (1903)
Jetzt bestellen bei amazon.de! „Einen KĂŒnstler, einen wirklichen, nicht einen, dessen bĂŒrgerlicher Beruf die Kunst ist, sondern einen vorbestimmten und verdammten, ersehen Sie mit geringem Scharfblick aus einer Menschenmasse.“

Tonio Kröger ist ein solcher KĂŒnstler. Mit dem Anspruch etwas Besonderes zu sein, aber auch mit einer Portion Selbstkritik, reflektiert er ĂŒber seine Einstellung der Gesellschaft gegenĂŒber und ĂŒber sein Dasein als Literat. Dabei projiziert der ErzĂ€hler mit schmuckvollen SĂ€tzen die Gedanken Tonios auf die NaturzustĂ€nde und auf das Äußere der Menschen.

Mit 14 liest er Don Carlos und liebt seinen Schulkameraden Hans Hansen, der einer dieser „blauĂ€ugigen Menschen“ ist, der keine tiefsinnigen Gedanken hat, sondern lieber PferdebĂŒcher liest, fröhlich, und bei allen beliebt ist. Gerade das ist es, was Tonio so sehr an ihm liebt. Er versucht ihn davon zu ĂŒberzeugen, auch Don Carlos zu lesen, was er aber spĂ€ter wieder verwirft. Dies tut er deshalb, weil er denkt, dass es wichtig ist, dass man Leute, die „viel lieber PferdebĂŒcher mit Momentaufnahmen lesen“ nicht „ zur Poesie verfĂŒhrt“. Er selbst ist zunĂ€chst weder von seinen Klassenkameraden, noch von seinen Lehrern oder von seinem Vater angesehen, weil er schreibt.

Seine innere Zerrissenheit wird schnell daran erkennbar, dass er es gut findet, dass sein Vater ihn dafĂŒr schilt, dass er so anders ist, als Andere und in der Schule schlechte Noten bekommt, weil er sich zu sehr mit anderen Dingen beschĂ€ftigt. Sich selbst bezeichnet er im letzten Kapitel der ErzĂ€hlung als „KĂŒnstler mit schlechtem Gewissen“. Bereits in seinem Namen ist ja die WidersprĂŒchlichkeit zwischen dem sĂŒdlich klingenden und fĂŒr die Leidenschaft und das Exotische der Mutter stehenden „Tonio“ und dem nördlichen, fĂŒr RationalitĂ€t und „NormalitĂ€t“ des Vaters stehenden „Kröger“, angesiedelt. Um diese Ambivalenz seines Charakters zu unterstreichen, lĂ€sst Thomas Mann ihn reisen. Von LĂŒbeck nach Italien, zurĂŒck nach MĂŒnchen und schließlich ĂŒber LĂŒbeck nach DĂ€nemark.

Mit 16 verliebt Tonio sich in Ingeborg, die, genau wie Hans, ein nordischer Typ ist und voll in die Gesellschaft integriert ist, die Tonio nur von außen betrachten darf. Aus dieser Isolation betrachtet er voll Neid die lebensfrohen Menschen, die nicht unter dem „Fluch“ der Berufung zum Schriftsteller leben mĂŒssen, falls „leben“ ĂŒberhaupt das richtige Wort ist, denn „daß man gestorben sein muß, um ganz ein Schaffender zu sein“, ist seine Einstellung zum Schreiben.

Mit ungefĂ€hr 30 Jahren trifft er sich mit Lisaweta Iwanowa, einer russischen KĂŒnstlerin, die dieses SelbstverstĂ€ndnis kritisiert. Er sei ein „verirrter BĂŒrger“ sagt sie und löst bei ihm damit ErschĂŒtterung aus. Nach einem GesprĂ€ch mit ihr, bricht er auf, um nach DĂ€nemark zu reisen. ZunĂ€chst besucht er aber seine Heimatstadt, LĂŒbeck, und fĂŒhlt sich dort fremd, obwohl er versucht sich den gesellschaftlichen Normen anzupassen. Von dort aus fĂ€hrt er mit dem Schiff nach DĂ€nemark weiter. Auf dieser Reise begegnet er eines Nachts einem schlichten Kaufmann, der ihm offen seine Wahrnehmung der Natur mitteilt und der auch einen gewissen Hang zur Poesie hat, sich aber selbst im vergleich zur Unendlichkeit des Universums als klein bezeichnet. Dabei steht er im deutlichen Kontrast zu Tonio selbst.

Schließlich kommt er nach DĂ€nemark an einen Kurort und trifft dort jenen nordischen Menschentyp, den er so sehr liebt. Er findet sich bei einem Ball in einer Situation wieder, die ihm fast genau so in frĂŒheren Jahren schon einmal begegnet ist, nĂ€mlich beim Tanzen einer Quadrille. Er möchte teilhaben am unbeschwerten Leben der ĂŒbrigen Touristen, beobachtet sie aber noch immer mit einer fĂŒr ihn typischen Distanz zum Geschehen.

Die, nicht nur kurze, sondern tatsĂ€chlich auch kurzweilige ErzĂ€hlung endet mit einem Brief Tonios an Lisaweta. „Ich stehe zwischen zwei Welten und habe es infolge dessen ein wenig schwer“, erklĂ€rt er ihr. Denn er weiß nicht nur, dass er anders ist, sondern er gesteht auch seine Sehnsucht danach „normal“ sein zu dĂŒrfen ein, weil er sich davon Unbeschwertheit verspricht. Er liebt nicht umsonst Hans und Inge, die ganz anders sind, als er. „Aber meine tiefste und verstohlenste Liebe gehört den Blonden und BlauĂ€ugigen, den hellen Lebendigen, den GlĂŒcklichen, LiebenswĂŒrdigen und Gewöhnlichen.“ Denn genau das ist sein Problem, ein Problem, das ein typisches Problem der Schriftsteller sein könnte. Kann man gleichzeitig so sein, wie alle anderen, Mitglied der Gesellschaft, ĂŒber die man schreibt oder muss man jemand sein, der am Leben kaum teilnimmt, um ein guter Schriftsteller zu sein? Sollten alle Don Carlos lesen oder gibt es nur wenige, die statt in PferdebĂŒchern zu blĂ€ttern, mit 14 Jahren tiefsinnige Gedanken entwickeln und sind nur diese Wenigen auch geeignete Schriftsteller?

Tonio Kröger entwickelt im Laufe seines Lebens eine Antwort darauf, die provokant und ĂŒberspitzt nicht nur zum Denken anregt, sondern bei der jeder, besonders jeder, der schreibt, das GefĂŒhl hat auf ein bekanntes Problem zu stoßen. Deshalb ist diese ErzĂ€hlung genial und wird ihre AktualitĂ€t nie verlieren.

Thomas Mann: Tonio Kröger (1903).
S. Fischer, 2005.
110 Seiten, Hardcover, 10 Euro.

Lena Harmes

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