Im Augsburg des Spätmittelalters wächst die Halbwaise Anna mit der Bürde auf, dass ihr Vater ertrank, als er sie als Baby aus dem Fluss rettete. Ihre Mutter lässt sie ihre Schuld täglich spüren und steht ihr nicht bei, als sie nach einem dummen Missverständnis als Kupplerin noch als Mädchen die Stadt verlassen muss. Im Wald wird sie von einer alten Einsiedlerin in Kräuterkunde unterwiesen und kehrt später als Seelschwester zurück. Durch einen weiteren Irrtum, der zum Selbstläufer wird, wird sie als Hungerheilige verehrt, die sie nicht ist. Aber sie kommt aus dem Heiligenspiel auch nicht mehr heraus, denn niemand hat Interesse an der Wahrheit.
Ein Gedankenspiel darüber, was eine Heilige zur Heiligen macht. Wo liegen die Motive von Kirche, Adel, Rat- und Hilfesuchenden und der Heiligen selbst? Diesen Fragen geht der Roman unter anderem nach. Anna ist nicht schlecht, im Gegenteil ist für sie die Möglichkeit Macht zur Hilfe zu haben einer der Gründe, das Spiel aufrechtzuerhalten. Als Heilige bekommt sie Gaben für die Armen, auf ihr Wort wird gehört und manchem kann sie wirklich helfen. Das ist für sie umso bemerkenswerter, weil sie doch selbst oft zum Spielball von Mächtigeren oder Intrigen wird. Es gelingt ihr sogar, sich ihren Wunsch nach Liebe und später sogar nach Familie zu erfüllen. Aber über allem schwebt immer das Damoklesschwert der Entdeckung, denn in Wirklichkeit muss sie essen wie jeder andere auch. Ursula Niehaus zeigt dem Leser die ganze Bandbreite der Augsburger Umgebung, von blind Gläubigen über eigensüchtige Kirchenmänner bis hin zu realistischen Kaufleuten.
Obwohl in diesem Roman der Zufall, der Anna oft genug böse mitspielt, eine große Rolle innehat, wirkt die Geschichte nie aufgesetzt oder künstlich. Der Leser steht von den ersten Seiten an direkt neben Anna und beobachtet ihren Lebensweg, wenn auch manchmal kopfschüttelnd, denn sie ist ein sehr menschlicher Charakter mit Schwächen und schwachen Momenten. Anna, die Hungerheilige von Augsburg, des Betrugs überführt, hat es wirklich gegeben. Dieses Buch beschreibt, wie es abseits der Gerichtsprotokolle gewesen sein könnte.
Ein durchgehend spannendes Buch ohne Längen, das immer wieder mit Überraschungen aufzuwarten weiß.
Ursula Niehaus: Das Heiligenspiel.
Knaur, Dezember 2008.
569 Seiten, Hardcover, 16,95 Euro.