Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
Ashok Sharma, Chef des gutgehenden Fahrunternehmens « white-tiger-technologycal-drivers » sitzt sieben Nächte lang in seinem Büro in der indischen IT-Boomtown Bangalore und schreibt einen Brief an den chinesischen Ministerpräsidenten, der demnächst die Stadt besuchen will und gerne einem typischen Vertreter des neuen aufstrebenden Unternehmertums in Indien kennen lernen möchte. Dafür sei keiner so geeignet wie er, der „Weiße Tiger“, dessen Fahrer dafür sorgen, dass die bis zum späten Abend arbeitenden Techniker sicher nach Hause kommen. Direkt, respekt-und rückhaltlos erzählt er in sieben Kapiteln seinen Aufstieg: Geboren als armer Schlucker namens Balram Halwai aus der niedrigen Kaste der Zuckerbäcker in einem ärmlichen Dorf zwischen Delhi und Benares, eine Gegend, die alle nur „die Finsternis“ nennen, war er eigentlich dazu verdammt, auf ewig den Boden im Teehaus aufzuwischen. Seine Eltern konnten sich keine Ausbildung für ihn leisten, da sie bei den Grundbesitzern verschuldet waren. Doch Balram hat keine Lust auf Kastenwesen und dadurch zementiertes Sklavendasein. Er beobachtet die Teehausbesucher, und eines Tages erfährt er, dass einer der Grundbesitzer für seinen Sohn in Delhi einen Chauffeur sucht. Balram sieht seine Chance gekommen und zieht in die chaotische Großstadt, wo Elend und Glanz, Slums und glitzernde Shopping-Malls, Verfall und Bauboom dicht nebeneinander liegen. Er wird konfrontiert mit einer ignoranten Oberschicht ohne soziales Empfinden, mit wuchernder Korruption und der Brutalität, mit der das Recht des Stärkeren durchgesetzt wird.
Aberwitzig, manchmal auch obszön und bizarr sind die Erlebnisse des Fahrers, und Komisches kippt unvermittelt ins Tragische. Als er seinen Chef und dessen Frau von einer Feier abholt, will sie trotz Alkoholkonsums das Auto fahren, brettert zum Spaß durch die nächtlich leeren Strassen Delhis und überfährt dabei einen Hund. Doch am nächsten Tag findet Balram Stofffetzen an den Rädern, und mit Grausen realisiert er, dass sie ein Kind überfahren haben. Der Chef jedoch ist erleichtert, dass es „nur“ ein armes Straßenkind war, dessen Verlust auf keinem Polizeirevier gemeldet wurde. Angewidert bringt Balram seinen Chef um, flieht mit dessen Geld und beendet so sein ewiges Dienerdasein....
Ein Schelmenroman aus dem modernen Indien, realistisch, bisweilen provozierend wegen der fragwürdigen Moral des Helden, jenseits aller Bollywood-Schmonzetten oder romantisch verklärter Hindu-Esoterik, das Bild einer Gesellschaft, die trotz vielgerühmtem Aufschwung in uralten Strukturen verharrt, ein „Hühnerkäfig“, in dem sich alle gegenseitig fertig machen. Hier erfährt man, warum sich trotz Versprechungen der Politiker in den Dörfern, im Schul-und Gesundheitswesen nichts ändert, wie sich die Reichen abschotten und die Armen demütig in ihr Schicksal fügen. Spannend und flüssig erzählt, oft mit groteskem Witz, auch gelingt es dem Autor, seinen Protagonisten durch einen lockeren Plauderton zu charakterisieren, der oft im Kontrast zur beklemmenden Realität steht.
Aravind Adiga wurde 1974 in Madras geboren. „Der Weiße Tiger“ ist sein erster Roman, für den er 2008 den renommierten Booker Prize erhielt.
Aravind Adiga: Der weiße Tiger.
C.H. Beck, Juli 2008.
318 Seiten, Hardcover, 19,90 Euro.