Galinas Schwester Mascha bringt im abgeschlossenen Badezimmer der Familie ihr Kind zur Welt. Als Galina und ihre Mutter Minuten später im Zimmer stehen, ist Mascha verschwunden – zurück bleibt nur ein Vogel. Auf ihrer Suche nach der verschollenen Schwester erfährt Galina, dass überall in der Stadt vermehrt Menschen verschwinden. Gemeinsam mit dem Polizisten Jakov trifft sie auf den Maler Fjodor, der – wie zuvor Jakov – sonderbare Dinge beobachtet hat. Menschen verwandeln sich in Vögel und seltsame Türen und Fenster führen augenscheinlich ins Nichts. Das ungleiche Trio wagt den Schritt durch eine dieser Türen und findet sich wenig später in einer skurilen Unterwelt wieder. Können sie hier das Rätsel lösen, welches die Stadt umgibt und zum Verschwinden von Galinas Schwester geführt hat?
»Die geheime Geschichte Moskaus« kann der Urban Fantasy zugeordnet werden und bezaubert innerhalb dieser besonders durch das gewählte Setting. Keine der bereits im Genre bekannten Städte wird als Ort des Geschehens gewählt, der Leser findet sich im Moskau der neunziger Jahre wieder und bekommt diese Geschichte aus verschiedenen Perspektiven präsentiert. Die drei Hauptfiguren – Künstler Fjodor, Polizist Jakov und Galina, die ihre Schwester sucht – stehen im Mittelpunkt der Erzählung und sind als ‚Menschen von der Straße’ gekennzeichnet. Nichts hebt sie von ihren Mitmenschen ab, sie werden nicht als Helden stilisiert, sie sind schlichtweg Bewohner der Stadt. Da sie einander vor den Vorfällen der verschwundenen Personen nicht kennen, kommt es zu Spannungen zwischen dem ungleichen Trio, das eigentlich wider Willen zusammengefunden hat.
Innerhalb der Handlung bieten sich aber auch immer wieder Gelegenheiten, anderen Personen über die Schulter zu schauen, die ihrerseits ihre Lebensgeschichte preisgeben. Eine zentrale Rolle spielt beispielsweise auch Elena, die Frau eines Dekabristen, eines der adligen Revolutionäre von 1825. Ihre Funktion ist nicht zu verachten und wird gleichfalls eindrucksvoll beschrieben, ja, macht sogar Lust, sich mit diesem Thema, den Frauen, die ihren Männern nach der Verurteilung in die Verbannung folgten, weiter auseinanderzusetzen.
Die Atmosphäre des Textes der in Russland geborenen Autorin, die heute jedoch in den USA lebt, gestaltet sich düster. Dafür sorgen natürlich auch die mystischen Nebenfiguren: Hier lebt die Welt der russischen Geschichten auf, Väterchen Frost und die heilige Kuh Zemun sind neben anderen Sagengestalten genauso in ihren Verlauf eingewoben wie belegbare geschichtliche Ereignisse, die sich in der Stadt abgespielt haben. Zwischen all diesen Faktoren wird innerhalb der beschriebenen Unterwelt ein untrennbares Band gewoben. Trotz dieser Mischung bleibt Ekaterina Sedias Fantasy-Roman in vielen Beschreibungen überraschend realistisch und besticht mit kleinen Details in der Erzählweise, die dem Text eine ganz eigene Färbung verpassen. In ihrer Originalsprache belassene Worte werden innerhalb der Kapitel durch Fußnoten näher erläutert, so dass ein Vorwissen über russische Märchen, Sagengestalten und Geschichte nicht zwingend erforderlich ist. Ja, hier kann man trotz der Verfremdung sogar noch etwas lernen.
Eine tolle Idee, mit einem unverkennbar eigenen Stil geschrieben und spannend bis zur letzten Seite. Empfehlenswerte, dĂĽstere Fantasy mit interessantem Ende.
Ekaterina Sedia: Die geheime Geschichte Moskaus.
Klett-Cotta, März 2009.
329 Seiten, Gebundene Ausgabe, 19,90 Euro.