Heimito von Doderer: Ein Mord, den jeder begeht (1938)
„Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war.“
Bereits die ersten beiden Sätze in Heimito von Doderers 1938 erschienenem Roman „Ein Mord den jeder begeht“ verweisen mit Hilfe der typisch Doderer’schen Metaphorik auf das Genre des Entwicklungsromans. Der Titel jedoch weiß es scheinbar besser und kündigt einen Kriminalroman an. Was steckt nun wirklich in diesem Werk, dessen Deutung die Schattierungen eines sprachlichen Kaleidoskops mit der Unmöglichkeit, jene zu greifen, zu verknüpfen gezwungen ist?
Vordergründlich wird der Leserwahrnehmung die berufliche und vor allem menschliche Entwicklung des Conrad Castiletz innerhalb einer gutbürgerlich abgesicherten Existenzform präsentiert. Castiletz, der angepasste, vielfach fremddeterminierte Opportunist, dessen innerer Drang nach Wahrheit ihn schließlich auf diese und damit letztlich auf sich selbst stoßen lässt, verkörpert ödipales Streben im rätselhaften Angesicht der Schuld.
Während sich der erste Teil des in vier Teile und zahlreiche Unterkapitel gegliederten Romans vorrangig Conrads Kindheit, Jugendzeit sowie intensiven Schilderungen des Settings widmet, begleitet der Leser den Protagonisten im Folgenden auf seiner vorausbestimmten Tätigkeit als Textilingenieur in einer großen Fabrik, in welcher Castiletz von Anfang an das Notizbuch des Chefsassistenten sein Eigen nennen darf. Der seit frühester Kindheit zur Ordnung regelrecht gedrillte Conrad fällt auch alsbald „durchaus geordnet in seine Verstrickung“ (wie uns der Erzähler augenzwinkernd mitteilt) der Ehe mit Marianne Veik. Deren jüngere Schwester Louison wurde sieben Jahre zuvor von einem Unbekannten auf einer nächtlichen Bahnfahrt ermordet und ihres Schmuckes beraubt. Mit dem Anblick eines Portraits der Ermordeten bricht in Conrad eine schwelende Wunde auf, deren Heilung, dies fühlt Conrad unbewusst, der eigenen Aufklärung des von der Polizei bereits seit langem unaufgeklärt zu den Akten gelegten Verbrechens bedarf.
Der bis dahin eher durch Antriebslosigkeit unauffällig gebliebene Conrad entwickelt nun gleichsam eigenständige wie wahnwitzige Strategien, um die damaligen Geschehnisse ans Tageslicht zu bringen. Und das mit fatalem Erfolg, wie sich zeigen wird. Ungeachtet des drohenden Verlusts des eigentlich nie so recht bestandenen Eheidylls treibt Conrad fortan einem Schicksal entgegen, das ebenso unausweichlich wie selbstzerstörerisch erscheint, das von der Wahrheit jedoch in ein klareres Licht als alle vorangegangenen „textilischen“ Tätigkeiten getaucht wird.
Die bestechende psychologische Tiefe der sprachlichen Bilder in diesem Frühwerk Doderers sucht in der Prosaliteratur ihresgleichen. Wenngleich das häufige Bemühen des Zufalls in entscheidenden Passagen als inhaltliche Schwäche gewertet werden kann, garantiert Doderers Erzählstil doch über bloße Unterhaltungsliteratur weit hinausreichende Qualität. Metaphern dienen vielfach nicht nur der originellen Veranschaulichung, sie erfüllen in ihrer eigentlichsten Dinglichkeit häufig ein für das Finale der Geschichte notwendiges Indiz, das der aufmerksame Leser bisweilen als fehlendes Mosaikstück in diesem dichten Textbild vorauszudeuten vermag, wenngleich die exakte Einordnung letztlich dem Erzähler obliegt. Die Suche nach der Wahrheit entblättert sich in dem Maß ihrer unterhaltenden Banalität, als dies Castiletz seine ihn dominierende Regelhaftigkeit aufzugeben und der werte Leser zu erkennen und anzunehmen vermag.
Fazit: Ein hochprozentiges Buch mit ungeahnten Nebenwirkungen auf den Geist.
Heimito von Doderer: Ein Mord, den jeder begeht (1938).
C.H.Beck, 2008.
370 Seiten, Hardcover, 24,90 Euro.