Ein Lastwagenfahrer liefert Gasflaschen aus. Immer wieder sieht er sich um, er hat die Flaschen schlecht gesichert und sie drohen, abzurutschen. Als es gar nicht mehr geht und er anhalten muss, überfährt er etwas.
Etwas, das auf einem Fahrrad unterwegs war und kleine Gummistiefel trug.
Sechs Jahre später: Bauunternehmer Jürgen Vedder ist auf dem Weg zu einer Grundsteinlegung. Eine schäbig gekleidete Frau rempelt ihn mit einem Einkaufswagen an. Kurz entschlossen nimmt er sie mit auf den Empfang. Dort verschluckt er sich an einem Stück Mozzarella und stirbt vor den Augen der Gäste.
Mit diesen beiden unzusammenhängenden Ereignissen beginnt der Roman, bevor der Protagonist auftritt: Joachim Vernau, ein Anwalt mit einer herunter gekommenen Kleinkanzlei, begleitet seinen Mandanten, den obdachlosen Hajo Hellmer ans Landgericht. Als Hellmer nach draußen geht, um an der Würstchenbude eine zu rauchen, schießt aus heiterem Himmel eine nette, ältere Dame auf ihn und bricht zusammen. Hellmer türmt und Vernau, neugierig geworden, nimmt sich der alten Dame an. Sie schickt ihn nach Görlitz, dort soll er ein Kistchen mit Dokumente holen. Das Kistchen kommt Vernau abhanden, doch der flüchtige Blick, den er hineinwerfen konnte, hat seine Neugierde geweckt; er beginnt zu graben. Was kann Hellmer dieser netten alten Dame angetan haben, dass sie ihn so sehr hasst, gar seinen Tod wünscht?
Und während Vernaus Kanzleipartnerin aktiv wird, um das abbruchreife Haus, in dem sie mit einer bunt zusammen gewürfelten Hausgemeinschaft mehr schlecht als recht hausen, vor dem Zugriff renovierungswütiger Investoren zu retten, ermittelt er in der Vergangenheit seiner Mandantin. Bald findet er mehr Fragen als Antworten: Was hat die schöne Staatsanwältin Salome Noack mit dem Fall zu tun? Warum musste der Sohn der alten Dame sterben?
Und was hat die eigenartige Anhäufung von Schicksalsschlägen vor etwa sechs Jahren zu bedeuten?
Der Leser folgt Vernau in seinen Ermittlungen und gräbt mit ihm Stück für Stück die Vergangenheit frei. Wie die geschilderten Fälle miteinander in Verbindung stehen, wird erst spät klar, das erhöht die Spannung und führt zu unvorhersehbaren Wendungen. Die Szenen in der letzten Instanz, einer urige Kneipe in der Nähe des Gerichts, sowie Einblicke in das Gebaren so genannter „besserer Kreise“ tragen zu einer kontrastreichen Atmosphäre bei. Viele skurrile Nebenfiguren bevölkern den Roman: Ein sensationslüsterner Gerichtsreporter; eine alte Nachbarin mit mehr Katzen, als in ihre winzige Wohnung passen; ein strebsamer Junganwalt; aber auch eine bunte Palette an gescheiterten Existenzen und Menschen, die mit schweren Schicksalsschlägen fertig werden müssen.
Wie reagiert jemand, dem das Liebste genommen wurde? Dieser Kernfrage geht die Autorin nach und webt die Antwort in eine spannende Geschichte ein. Gleichzeitig behandelt der Roman die Entwicklung Deutschlands nach dem Mauerfall; es geht um Gewinner und Verlierer; und bei manchen politischen Betrachtungen wird nicht ganz klar, ob es die Vernaus sind, oder die Meinung der Autorin durchblickt. Aber das beeinträchtigt nicht das Lesevergnügen an diesem spannenden Roman, den man bis zum wendungsreichen Schluss nicht aus der Hand legen kann.
Elisabeth Herrmann: Die letzte Instanz.
List Verlag, März 2009.
406 Seiten, Hardcover, 19,90 Euro.