Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
Hermann Hesse gilt als Außenseiter seiner wie auch unserer Zeit. In einer zynismusfreien und damit selten gewordenen Art schildert er in „Siddhartha“, seiner 1953 erschienenen „indischen Dichtung“, den Werdegang eines Brahmanensohnes, dessen Lebensinhalt – wie so oft bei Hesse – im bewussten Finden des eigenen Selbst besteht.
Chronologisch bereitet der Erzähler die wesentlichen Stationen des Siddhartha auf, lässt den Leser an juvenilen Sturm- und Drangphasen ebenso teilhaben wie an Verirrungen in der materiellen Welt und schließlich an der verklärten Altersweisheit des Protagonisten, der erkennt: „Wissen kann man mitteilen, Weisheit aber nicht. Man kann sie finden, man kann sie leben, man kann von ihr getragen werden, man kann mit ihr Wunder tun, aber sagen und lehren kann man sie nicht.“ In diesem, und nur in diesem Sinne kann der Roman als Lehrwerk verstanden werden.
Siddhartha, allen Lehrern und Lehren grundsätzlich skeptisch gegenüberstehend, verlässt mit seinem Freund Govinda die heilige Gemeinschaft der Brahmanen, um als Samana einer streng asketischen Lebensweise folgend durch Abtötung selbst der elementarsten menschlichen Bedürfnisse zur Verschmelzung allen Lebens zu gelangen. Seine Zweifel bleiben jedoch bestehen. Als Govinda, der zeitlebens ein Suchender und Anhänger fremder Lehren bleiben wird, Gotama, dem Buddha, nachfolgt, begibt sich Siddharta in die Welt der Lüste, wird Kaufmann, Würfelspieler und Trinker. Von der Kurtisane Kamala wird er in die Geheimnisse der Liebe eingeführt; schließlich entflieht er auch diesem Leben und findet beim Fährmann Vasudeva zurück zur Einfachheit des Lebens.
In klarer, legendenähnlicher und überzeugender Sprache gelingt dem Autor die Gratwanderung zwischen Pathos und Trivialität. Noch lange vor dem Aufkommen des Esoterikbooms wurde Hesses wie ich meine wichtigstes (Alters-)Werk von der Hippiegeneration der 60er Jahre vor allem in den USA und in Japan geradezu vergöttert. Wer in Zeiten eines Paulo Coelho spirituelles Gedankengut mit dem Anspruch an Literarizität verknüpft sehen möchte, tut gut daran, von binsenweisen Kalenderspruchsammlungen Abstand zu nehmen und sich einem Autor zu öffnen, der diesem Berufsstand mit Recht zugeschrieben wird.
„Siddharta ist für mich eine wirksamere Medizin als das Neue Testament“ (Henry Miller)