Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
Nina kauerte auf der Couch und hatte die Arme um die Knie geschlungen. Sie hielt die Luft an, während sie gespannt lauschte. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und Nina spürte die Gänsehaut an den Armen. Deutlich sah sie es vor sich...
Staub, nichts als Staub. Eine dicke Staubschicht bedeckte den Boden und die schweren Möbel. Die alten Samtvorhänge ließen nur wenig Licht durch die großen Fenster. Aber da waren die Spuren im Staub, es sah aus wie verwischte Fußabdrücke. Und auch auf den Polstern waren deutliche Kuhlen zu sehen. Mal größere, mal kleinere.
Nina schüttelte sich leicht und konnte vor ihrem inneren Auge die Gespenster sehen, die auf dem roten Brokatsessel saßen. Sie waren unsichtbar, aber sie hatte eine genaue Vorstellung wie sie aussahen.
Graue, neblige Gestalten mit verschwommenen Konturen und lustigen, schwarzen Augen. Eigentlich sahen sie gar nicht so furchterregend aus, wenn da nicht diese Geräusche gewesen wären.
Nina zuckte zusammen und rieb sich über die Arme. Sie war ja so aufgeregt und neugierig. Vor Spannung hielt sie es kaum aus. Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe. Gebannt spitze sie die Ohren.
Rasselnde Ketten, ein Pfeifen, ächzen und heulen und ein unheimliches Stöhnen. So, als wenn jemand starke Schmerzen hat. Doch die Gespenster sahen alle recht munter aus und schienen sich zu amüsieren. Die Spuren auf dem Boden nahmen zu, aber ganz verwischt. Sie hörte das Trappeln, obwohl sie sicher war, dass sie über dem Boden schwebten.
Vor Aufregung biss sie sich auf die Zunge.
"Aua", entfuhr es ihr leise.
Schnell legte Nina das Kinn auf ihre Knie und saß ganz still, um nichts zu verpassen. Ihre Augen hatte sie weit geöffnet und ihre Pupillen funkelten.
Es polterte und schepperte überall in dem alten Schloss und der eiserne Türklopfer ertönte ohne Unterlass.
Immer mehr Geister huschten durch die große Halle. Einige trugen große Weidenkörbe, gefüllt mit bunten Päckchen. Andere schleppten alte Kessel, gefüllt mit kochendem Wasser. Wieder andere brachten stapelweise Laken herein. Geschwind wurden die Tücher und das Wasser die Treppe hinauf gebracht, während die Päckchen auf einem Tisch dekoriert wurden. Die meisten Pakete waren in blaues oder rosa Papier eingewickelt, aber einige waren auch sehr bunt. Auf einem Geschenk war ein Babyschnuller befestigt.
Nina lachte laut auf. "Ein Schnuller, wie witzig", dachte sie. "Was die Gespenster wohl vorhaben?"
In der Halle herrschte eine große Betriebsamkeit. Möbel schwebten durch die Luft und der Saal wurde ausgeräumt. An den Wänden wurden brennende Fackeln in die Halter gesetzt und überall standen silberne Leuchter mit Kerzen. Der Wind pfiff durch das alte Gemäuer und die Flammen warfen flackernde Schatten auf die Wände.
Alle eilten geschäftig hin und her. Eine festliche Tafel wurde gedeckt. Es sah lustig aus, ein langer Tisch mit silbernem Besteck und weißem Porzellan. Alles bewegte sich und wurde arrangiert, nur von wem war nicht zu sehen.
Nina hielt sich die Hand vor den Mund und unterdrückte ein Prusten. Aufgeregt wippte sie mit den Zehenspitzen. Dann hatte sie ihren Heiterkeitsausbruch unter Kontrolle und lehnte sich zurück.
Der Saal sah jetzt sehr schick aus und der Türklopfer ertönte auch nicht mehr, scheinbar waren alle eingetroffen. Langsam wurde es ruhiger und die Hektik lies nach. Nur auf der Treppe blieb es rege. Gespannt wurden die Gespenster erwartet, die treppab schwebten. Doch immer schüttelten sie fast unmerklich den Kopf. Enttäuschung machte sich auf den Gesichtern breit.
Doch da war es plötzlich wieder, das Heulen. Lauter und schauriger als zuvor. Ein Wimmern, zu spüren wie ein Schmerz.
Nina zuckte zusammen und zitterte etwas. Fest presste sie die Hände aneinander. Die Anspannung stand ihr ins Gesicht geschrieben und ihre Augen glänzten.
Das Heulen nahm zu, langgezogen, wehmütig, wie ein trauriges Lied. Spürbar nahm sie die Unruhe der Gespenster war. An den Spuren im Staub sah es aus, als würden sie unruhig hin und her wandern. Plötzlich schlug die alte Standuhr. Zwölfmal schlug sie aus. Mitternacht. Außer der Uhr war kein Geräusch mehr zu hören. Atemlose Stille. Nachdem der letzte Gong verhallt war, erklang noch einmal das Seufzen. Es ging durch Mark und Bein, als wolle es nie mehr enden. Doch dann war es vorbei. Kein Laut war mehr zu hören, Totenstille.
Nervös wickelte Nina eine Haarsträhne um ihren Finger. Sie traute sich kaum sich zu Bewegen, um kein Geräusch zu verursachen.
Dann ein Schrei und ein lautes Rascheln. So, als wenn alle Gespenster sich in eine Richtung bewegten. Lautes Lachen und Glucksen. Langsam wurden die Nebelschwaden sichtbar. Eine Gespensterschar schwebte die Treppe hinab. Sie strahlten und nickten. Das war das Zeichen, fröhliche Musik erklang und die Gespenster fassten sich an den Händen. Sie bildeten einen Kreis und begannen zu tanzen.
Ein Lächeln huschte über Ninas Gesicht und sie entspannte sich merklich. Sie befeuchtete ihre Lippen und ihre Augen strahlten. Gerne hätte sie sich jetzt dazu gestellt und mit den Geistern getanzt. Sie stellte sich das wunderbar vor.
Plötzlich ein lautes Knarren und die schwere Holztür wurde geöffnet. Ein lächelndes Gespenst schwebte durch die Tür. Es hielt ein Bündel im Arm und strahlte über das ganze Gesicht. Die schwarzen Augen funkelten. Das Bündel begann sich zu bewegen und ein lautes Brüllen tönte durch den Saal. Die Gespenster fielen sich in die Arme und lachten und klatschten und freuten sich. Ein Gespensterbaby war geboren.
Auch Nina musste jetzt herzlich Lachen. Nun wusste sie endlich, wofür Gespenster einen Schnuller brauchen.
Dann beugte sie sich zur Seite und gab ihm einen dicken Kuss auf die Wange. "Opa, deine Geschichten sind wirklich spitze."
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