Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten- Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
Professor Raphael A. Muhr und seine Frau Carola liebten einander über alles.
Als Carolas Großtante Auguste ihnen eines Tages ein wunderschönes Jugendstilhaus vererbte, schien das Glück des jungen Paares perfekt.
Doch dann wurde Carola Muhr sehr krank und starb.
Professor Raphael A. Muhr konnte diesen Schicksalsschlag nicht verwinden und stürzte sich in die Arbeit.
In jeder freien Minute schrieb er an seinem Grundlagenwerk "Die Produktion neuzeitlicher Kurzgeschichten am Beispiel der Internetliteratur unter besonderer Berücksichtigung der www.schreib-lust.de".
1. Kapitel
Müde kehrte Professor Raphael A. Muhr von der Universität heim und wollte die Haustür aufschließen. Doch daraus wurde nichts, denn der Schlüssel brach ab und eine Hälfte blieb im Schloss stecken.
"Wie soll ich jetzt ins Haus kommen?", fragte der Professor. "Ich wollte doch heute Abend an meinem Buch weiter schreiben."
Seit Carola nicht mehr da war, hatte er begonnen, mit sich selbst zu sprechen.
Glücklicherweise war Raphael nicht nur klug, sondern auch handwerklich geschickt. So holte er den Werkzeugkasten aus der Garage und baute das Türschloss aus.
2. Kapitel
Sogleich bestätigte sich die Richtigkeit von Murphys Chaosgesetz: Jedes gelöste Problem gebiert ein neues!
Raphael wurde klar, dass Einbrecher nun ohne weiteres in sein Haus eindringen und ihn bestehlen konnten. Um die Einrichtung wäre es nicht schade gewesen, aber das Manuskript ... !
"Habe ich nicht kürzlich auf dem Speicher so ein antiquarisches Türschloss mit zugehörigem Schlüssel gesehen?", fragte Raphael.
Er eilte auf den Dachboden und kramte in Großtante Augustes Sammelsurium alter Schätze. Schließlich entdeckte er das Gesuchte: ein großes, schweres Schloss mit einem geradezu riesigen eisernen Schlüssel.
Eilig kehrte Raphael zur Haustür zurück. Bisher schien noch kein Manuskriptdieb seine Chance erkannt zu haben.
Raphael baute das antike Schloss ein, ließ die Haustür zufallen und drehte probehalber den Schlüssel nach links und nach rechts. Er ließ sich überraschend leicht bewegen.
"Das habe ich ja prima hingekriegt", sagte Raphael und wandte sich in Richtung Arbeitszimmer, wo sein Manuskript auf ihn wartete.
3. Kapitel
"Das war alles?", rief eine empörte Stimme hinter ihm.
Raphael fuhr herum. Es war niemand zu sehen.
War etwa doch ein Fremder ins Haus eingedrungen, während er auf dem Speicher nach dem Schloss gesucht hatte? Oder wurde er langsam wahnsinnig? Mit sich selbst sprechen, naja, das ging ja noch, aber Stimmen hören ... !
"Raphael, du drehst langsam durch", sagte er streng.
"Ich heiße nicht Raphael, du schnurriger Kauz! Wo ist Auguste?", fragte die Stimme.
Sie schien irgendwie aus der Tür zu kommen.
Raphael beschloss, höflich zu sein.
"Auguste ist gestorben. ICH bin Raphael. Und wer bist DU, wenn ich fragen darf?"
"Ich heiße SPUKSCHLOSS. SPUKSCHLOSS JUNIOR, um genau zu sein. Auguste hat mich einfach ausbauen lassen, weil ich ihr zu spukig war. Nett von dir, dass du mich wieder eingebaut hast! Mir wurde ganz schön langweilig auf dem Speicher."
Raphael spürte, wie auf Nacken und Armen pucklige Gänsehaut entstand.
"Ich habe Halluzinationen", sagte er. "Ein Schloss, das einen Namen hat und sprechen kann!"
"Ich kann nicht nur sprechen, ich kann auch spuken", sagte Spukschloss beleidigt.
Raphael hielt es für klüger, darauf einzugehen.
"So? Wie sieht deine Spukerei denn so aus?"
Statt einer Antwort begann das Schloss, blau zu leuchten und leise zu summen.
Raphael fühlte eine magische Anziehungskraft von der Türklinke ausgehen. Ohne es wirklich zu wollen, öffnete er die Haustür.
"Aaah", seufzte das Schloss zufrieden, "endlich mal wieder eine Abwechslung!"
Raphael schaute in seinen Vorgarten. Der hatte sich merkwürdig verändert. Wo die Rhododendron- und Forsythienbüsche hätten stehen sollen, befanden sich prall gefüllte Bücherregale, und anstelle der Gartenpforte erblickte er einen Schreibtisch aus massivem Eichenholz.
Erschrocken knallte Raphael die Tür wieder zu.
4. Kapitel
Spukschloss junior lachte.
"Da staunst du, mein Lieber! Was sagst du nun?"
Raphael staunte tatsächlich.
"Wie hast du das gemacht?"
"Ganz einfach", erklärte Spukschloss. "Wenn du den Schlüssel einmal nach links und einmal nach rechts drehst, erkenne ich deine Gedanken. Und wenn du anschließend die Tür öffnest, bringe ich dich dorthin, wo du dich am wohlsten fühlst. Gut, nicht wahr?"
Raphael nickte beeindruckt, und es entstand eine Gesprächspause.
"Äh, sag‘ mal, Verehrtester", meldete sich Spukschloss nach einer Weile, "willst du eigentlich wirklich dein ganzes Leben mit Büchern verbringen?"
Raphael überlegte, und plötzlich standen Tränen in seinen Augen. Er räusperte sich und sagte mit heiserer Stimme: "Seit Carola tot ist ..."
Wieder ging blaues Leuchten und leises Summen vom Türschloss aus, und wie hypnotisiert streckte Raphael die Hand aus, drehte den Schlüssel nach links und nach rechts und öffnete die Tür.
5. Kapitel
Eine unfassbar weite Marmorhalle erstreckte sich vor seinen Augen, unterbrochen von Alabastersäulen, vergoldeten Wasserbecken, leise plätschernden Springbrunnen und bestickten Diwanen. Farbenprächtige Blumen in silbernen Schalen verströmten einen betörenden Duft. Angenehme Musik, deren Ursprung er nicht ausmachen konnte, umschmeichelte seine Ohren.
Überall lagerten oder wandelten anmutige Frauengestalten in seidenen Gewändern. Eine von ihnen kam lächelnd auf Raphael zu.
Ungläubig riss er die Augen auf.
"Carola?"
Sie schloss ihn in ihre Arme und flüsterte in sein Ohr: "Raphael, wie schön, dass du da bist!"
Epilog
Professor Raphael A. Muhr hatte vergessen, den Türschlüssel mitzunehmen.
Er bemerkte es erst drei Tage später. Inzwischen war seine Haustür natürlich zugefallen.
Als ihm klar wurde, dass er nicht mehr nach Hause zurück konnte, bedauerte er dies jedoch keinen Augenblick.
So sind Carola und Raphael A. Muhr wieder glücklich vereint, und die Fachwelt wartet noch heute auf das Standardwerk "Die Produktion neuzeitlicher Kurzgeschichten am Beispiel der Internetliteratur unter besonderer Berücksichtigung der www.schreib-lust.de".
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