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Juli 2001
Tristan
von Angelika Brox

Zum ersten Mal seit Tristans Geburt war Susanne wieder ausgegangen. Sie wollte Steffens freien Tag nutzen, um einen Stadtbummel mit ihren Freundinnen zu machen und sich endlich wieder ein paar schicke Sachen zu kaufen. Die Umstandskleider hatte sie in einen Koffer verbannt.

Steffen ging ins Schlafzimmer und beugte sich über das Kinderbett. Seit drei Wochen war er jetzt schon Vater, und immer noch musste er sich hin und wieder vergewissern, dass Tristan wirklich existierte. Er betrachtete seinen Sohn und konnte es kaum fassen, an diesem Wunder maßgeblich beteiligt gewesen zu sein.
Tristan schlief tief und schnaufte leise. Steffen schlich sich aus dem Zimmer.

Im Wohnzimmer öffnete er eine Schublade der alten Fichtenholzkommode, holte einen Briefumschlag heraus und setzte sich damit auf das Sofa. Er entnahm dem Umschlag einen zerknitterten Zettel, faltete ihn auseinander und las den Text, den er fast auswendig kannte:


Mein geliebter Steffen! 30.6.1985

Ich schreibe dir diesen Brief, damit du weißt, dass deine Eltern dich sehr geliebt haben. Wir hätten dich niemals freiwillig verlassen! Jetzt kann ich dir noch nicht alles erklären, du bist ja erst fünf Jahre alt. Deine Großeltern haben versprochen, dir den Brief zu geben, wenn du etwas älter bist. Ich hoffe, dass du deinen Eltern einmal verzeihen kannst.
Dein Vater und ich waren als Schüler in einer Clique, die aus Langeweile Alkohol und Rauschgift ausprobierte. Irgendwann hingen wir an der Nadel, und unser Leben war zu Ende, bevor es richtig angefangen hatte. Ich hoffe, mein geliebter Sohn, dass du aus unseren Fehlern lernst. Pass immer gut auf dich auf!
Vor vier Jahren bekam dein Vater Aids. Als wir damals anfingen zu fixen, war die Krankheit ja noch unbekannt, deshalb achteten wir nicht so sehr auf saubere Spritzen. Mein einziger Trost ist, dass du gesund geboren wurdest, ohne dieses schreckliche Virus in dir zu tragen.
Als du drei Jahre alt warst, starb dein Vater an den Folgen von Aids. Auch bei mir war die Krankheit da schon ausgebrochen. Die Ärzte sagten, dass ich höchstens noch ein Jahr zu leben hätte. Ich wollte dich nicht auch noch im Stich lassen und habe es immerhin zwei Jahre geschafft.
Aber jetzt geht es bald zu Ende. Ich möchte nicht, dass du mich so elend siehst. Das soll nicht deine letzte Erinnerung an mich sein. Morgen früh gehe ich ins Krankenhaus. Wir werden uns nicht mehr wiedersehen.
Lebe wohl, mein über alles geliebter Steffen!


Deine Mama


Steffen faltete den Brief zusammen, steckte ihn in den Umschlag zurück und verstaute ihn wieder in der Schublade. Dann ging er noch einmal ins Schlafzimmer.
Tristan schlief immer noch friedlich und ahnungslos. Die Bettdecke war ein wenig verrutscht. Steffen zupfte sie vorsichtig zurecht, so als solle sie ihn für alle Zeiten vor jedem Ungemach beschützen.
Er hatte aus den Fehlern seiner Eltern gelernt.

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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