Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
"Probieren Sie, Signora! Frische Erdbeeren! Sehr, sehr süß!"
"Danke, nein." Ich eile über den Markt, meine Einkaufsliste fest umklammert. Schon so spät und ich habe noch eine Menge für heute abend zu erledigen. Einkaufen, Putzen, Kochen - keine Zeit für einen netten Schwatz mit einem Markthändler.
Doch er ist hartnäckig. "Sie müssen probieren! So schöne Früchte haben Sie noch nie gegessen", lockt er mich.
"Also gut", sonst komme ich hier nie weg. Seufzend greife ich nach der Erdbeere.
Ich beiße hinein und schließe überrascht die Augen. Er hat nicht gelogen, die vollkommene Süße dieser Frucht füllt meinen Gaumen. So süß, so saftig. Weckt Erinnerungen, die längst vergangen sind ...
Erdbeeren, frisch gepflückt. Noch warm von der Sonne, auf einem weißen Teller angerichtet, das dunkle Rot der Früchte leuchtet verführerisch. Ein Sommergarten. Er hält mir lächelnd eine Erdbeere entgegen. Ich beuge mich zu ihm, liege nun dicht neben ihm. Ich beiße in die vollreife Frucht, die rote Flüssigkeit tropft über seine Finger und seinen nackten Bauch. Er lächelt, taucht einen Finger in den süßen Saft und streckt ihn mir entgegen. Mit der Zunge lecke ich genießerisch an seinem Finger, spüre dem vollen, säuerlich und zugleich süßen Aroma nach. Hungrig nach mehr Süße folge ich der Spur des Erdbeersaftes...
Sinnierend laufe ich weiter. Wie lange ist es nun her? Zwanzig Jahre? Fünfundzwanzig?
"Ich bin so wild nach Deinem Erdbeermund!" Uralte Beschwörungen, nicht neu und originell, doch für mich damals wie frisch für mich erdichtet. Endlose Erdbeerküsse in der flimmernden Sommerhitze.
Ach, Erdbeerträume - Erdbeerschäume. Es sind doch kurzlebige Früchte. Rasch sind sie verdorben, schnell verliert das Fruchtfleisch seine zarte Festigkeit. Meine Jugendzeit ist schon lange her. Auch die Träume verschwimmen in der Erinnerung.
Vorbei sind die leichten, verheißungsvollen Sommerstunden im Garten, Stunden die in ihrer Zartheit nie enden wollten. In ihnen lag das Versprechen weiterer Sinnesfreuden. Heute sind die Stunden angefüllt mit Terminen, Besorgungen, Einkäufen, Aufgabenlisten. Abends Bügelwäsche, Elternabende, Fernsehen. Keine Zeit mehr für Erdbeerträume.
Ich erledige zügig den Rest meiner Einkäufe, verstaue die Einkaufstüten im Kofferraum meines Autos. Nur noch schnell zur Bank, dann ist alles erledigt. Doch in Gedanken bin ich noch immer im Sommergarten meiner Jugend. Wehmütig. Wann nahm ich das letzte Mal bewußt die Süße des Erdbeergeschmacks in mir auf? Statt dessen denke ich darüber nach, ob genügend Zucker im Haus ist, um Erdbeermarmelade einzukochen.
Die Verheißung, die in diesen Erdbeerstunden lag - habe ich sie gefunden? Damals war noch alles offen. Die Küsse versprachen noch Unbekanntes, in verheißungsvoller Zukunft liegend. Mit dem Ende des Sehnens ging auch der Zauber verloren. Alles erlebt, alles erprobt. Nicht nur die Alltagsroutine hat mich erfaßt, auch das Liebesleben in seiner alltäglichen Berechenbarkeit ist nicht mehr spannend genug.
Kann ich den Zauber wiederbeleben? Oder muß ich etwas Neues suchen? Gibt es nur die Erdbeersüße der Jugend? Eine Zeile aus einem Gedicht kommt mir in den Sinn:
"Wer meint, alle Früchte
würden gleichzeitig mit den Erdbeeren reif,
versteht nichts von den Trauben."
Das ist es. Heute abend sind Jürgen und ich alleine. Kurz entschlossen drehe ich mich um und laufe zum Markt zurück. Ich werde für diesen Abend Trauben einkaufen.
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