Es hat wehgetan, sehr weh getan! Sie wollten doch zusammen alt werden, Herbert und Käthe, das hatte er ihr doch versprochen. "Käthe, ich bin auch noch bei dir, wenn dein letztes Haar grau wird", sagte er immer lachend und vertrieb damit ihre Ängste. Aber dann war es doch geschehen, über Nacht. So, als hätte er sich heimlich und leise davongeschlichen, hatte er sie verlassen. Käthe wusste es gleich, als sie ihn am Morgen mit weit offenem Mund daliegen sah, so blass. Und doch konnte sie es nicht glauben. Sie rief ihn, sie schüttelte ihn, sie flehte ihn an, aufzuwachen – aber dann kroch die Kälte seines Todes in ihre Glieder, lähmte sie, ließ sie in Entsetzen und Verzweiflung zusammenbrechen.
Die Tage danach erlebte Käthe wie in einem bösen Traum. Freunde kamen, Verwandte kümmerten sich um sie und Nachbarn halfen. Kinder hatte sie nicht, zwei Neffen stützten sie, als sie dem Sarg hinterhergehen musste. Sie hielten sie fest, als sie ihm am liebsten ins Grab gefolgt wäre. Dann war auch Herberts letzter Tag, der Tag der Beisetzung, vorbei. Alle gingen auseinander, jeder hatte wieder mit sich zu tun. Der Alltag begann – auch für sie. Sie war allein.
Wochen ließ sie verstreichen, ehe sie versuchte, die Spuren seines Lebens, die er hinterlassen hatte, zu ordnen. Was ihr an Dingen wichtig war, legte sie ab; anderes gab sie weg, weil sie es nicht mehr ertragen konnte, es zu sehen, als würde er jeden Moment wieder lachend zur Tür hereinkommen. Vieles ging jetzt durch ihre Hände, rief Erinnerungen wach an vergangene Zeiten, an viele glückliche Tage, aber auch an Momente, wo ihnen nur ihre tiefe langjährige Verbundenheit helfen konnte, über Streit und Schmerz hinwegzukommen. Vierzig Jahre waren es geworden, die sie zusammen verbringen durften, vierzig Jahre voller Vertrauen und Liebe, die alles überwand.
Noch zögerte Käthe in die kleine Schachtel aus seinem Nachttisch zu schauen, in der er all die Dinge aufhob, die ihm ganz persönlich besonders wichtig waren. Nie hatte sie danach verlangt, da hineinzuschauen; nie hatte er es ihr angeboten; nie hatten sie darüber gesprochen. Sie ließ ihm seine letzte kleine Heimlichkeit, die er vor ihr noch hatte. Sie respektierte das. Es gab keinen Grund für sie, misstrauisch zu sein. Sie war sich immer sicher gewesen, dass sein Leben für sie so überschaubar war wie ihr Leben für ihn. Aber jetzt öffnete sie diese Schachtel doch, als täte sie etwas Verbotenes. Einen kleinen Stapel Briefe nahm sie heraus. Es waren Briefe, kaum noch leserlich, die ihm seine Mutter im Krieg ins Feld geschickt hatte. Dann sah sie eine getrocknete und gepresste Rose. Darunter lag ihr erster Brief an ihn, den sie ihm mit dieser Rose geschickt hatte, als er nur für wenige Tage von ihr entfernt sein musste. Sie las ihn, und sie weinte. Was schrieb sie darin schon von Sehnsucht? Es war nur für ein paar Tage gewesen. Aber jetzt war er für den Rest ihres Lebens von ihr getrennt. Dann fand sie noch einen Ring, eine alte Taschenuhr, die wahrscheinlich seinem Vater gehört hatte und ein paar uralte Reichsmark, von denen er vielleicht glaubte, dass sie einmal wertvoll sein könnten.
Mehr schien nicht darin zu sein. ‚Daraus hätte er auch kein Geheimnis zu machen brauchen', dachte sie noch und griff nach dem alten, schon brüchigen Zeitungspapier, womit er die Schachtel offenbar ausgelegt hatte. Doch als sie es herausnahm, da lag noch ein Brief darunter, als wäre er dort versteckt worden.
‚Seltsam, warum hatte er diesen, ihr unbekannten Brief versteckt?', überlegte Käthe. Die Adresse war nicht mehr zu erkennen, durch Wasser war sie verwischt worden. War das Absicht gewesen? Eine eigenartige Beklemmung befiel sie, als sie diesen rätselhaften Brief in die Hand nahm. Mit vielem hätte sie gerechnet, aber damit nicht. Sie wehrte sich noch dagegen, daraus Schlüsse zu ziehen, als sie ihn öffnete. Ein vergilbtes Blatt Papier zog sie heraus, auf dem von Kinderhand ein Herz aus Vergissmeinnicht gemalt war. "Pappi, ich liebe dich!", stand darunter in ungelenken Buchstaben, als hätte jemand einem schreibunkundigen Kind die Hand geführt, und daneben war ein Bild von einem kleinen Mädchen geklebt. Auf der Rückseite fand sie noch ein weiteres Bild von einer hübschen jungen Frau. Darunter stand: "Wir lieben dich beide. Komm bald für immer zu uns!"
Ein Frösteln befiel sie. ‚Er hat dich betrogen, unsere Liebe verraten!', ging Käthe als Erstes durch den Sinn. Aber dann schalt sie sich: "Unsinn! Ich hätte doch etwas gemerkt; so dumm war ich doch nicht!" Nie hat sie an eine andere Frau gedacht, nicht einmal in den Jahren, als er die vielen Geschäftsreisen machen musste. Ach ja, die Geschäftsreisen - eine tiefe Leere macht sich plötzlich in ihr breit. Das war vor ungefähr dreißig Jahren gewesen. Obwohl sie auch da an keine andere Frau gedacht hatte, drohte damals ihre Ehe zu zerbrechen. Sie war in dieser Zeit zu oft allein gewesen, er zu oft weg. ‚Geschäftlich natürlich!', dachte sie jetzt voller bitterem Hohn. Sie, kinderlos, fühlte sich so überflüssig in jener Zeit, wollte wieder arbeiten gehen, aber er war noch von der alten Generation. "Ich kann meine Frau allein ernähren", erklärte er und duldete keinen Widerspruch. Sie sollte zu Hause sein, wenn er heimkam. Viel Streit gab es damals darum. Trotzig hatte sie da schon überlegt, ob sie ihn, den in ihren Augen egoistischen Mann, nicht verlassen sollte. Ja, da stand ihre Ehe auf dem Spiel. Zu ihrer Überraschung hatte er aber dann von einem Tag auf den andern seine Meinung geändert. Sie konnte sich nie erklären, warum. So war sie noch viele Jahre in ihrem alten Beruf tätig. ‚Wollte er damit erreichen, dass ich selbst eigenes Geld verdienen konnte, wenn er mich verließ?', fragte sie sich nun misstrauisch.
Aber dann tat sie es wieder ab. Sein Bruder fiel ihr ein, der ungefähr zur gleichen Zeit bei einem Segeltörn verschollen war. Er war immer recht leichtsinnig gewesen und hatte den Eltern viel Kummer gemacht. Sie grämten sich sehr. "Käthe, es ist besser, wenn wir nicht über ihn mit Mutter reden", erklärte Herbert einmal. Danach wurde er fast totgeschwiegen. Vielleicht galt dieser Brief diesem Bruder; vielleicht hatte Herbert ihn nur aufgehoben, weil es da noch irgendwo eine Tochter von diesem Bruder gab, weil er diesen Bruder doch nicht so ganz vergessen konnte.
‚Ja, so kann es gewesen sein', dachte Käthe erleichtert und wollte den Brief schon zurücklegen, da entdeckte sie auf der Rückseite des Kuverts, gerade noch zu entziffern, die Adresse des Absenders. ‚Der Ort ist ja gar nicht weit von mir entfernt', stellte sie fest. ‚Ich könnte ja mal hinfahren und nachforschen', überlegte sie. Jetzt sah sie sich das Bild von dem kleinen Mädchen noch einmal genauer an. Hatte es nicht doch Ähnlichkeit mit ihrem Mann, die gleiche Nase und die Sommersprossen darauf? Sie holte ein altes Bild von ihm aus Kindertagen hervor. Ja, die Ähnlichkeit war groß. Dieses kleine Mädchen konnte seine Tochter sein. Aber wieso war es dann möglich, dass sie nie etwas davon erfahren hat? Wieso konnte er es so geheim vor ihr halten? Wieder kamen ihr diese misstrauischen Gedanken. ‚Nein, nein! Es ist bestimmt ein Kind des Bruders', beruhigte sie sich erneut. Doch nun wollte sie es wissen, wenn es sich noch klären ließ.
Käthe setzte sich in ihr Auto und fuhr los, mit Herzklopfen. Was würde sie dort vorfinden, ob sie überhaupt noch eine Antwort bekommen konnte? Wer erinnerte sich noch an diese junge Frau und das Kind nach vielleicht dreißig Jahren? Längst konnten sie weggezogen sein, und niemand wusste wohin.
Sie hoffte sehr, noch eine Erklärung zu finden. Wenn sie hierauf keine Antwort mehr bekam, das wäre schlimm. Dann würden die Zweifel bleiben, immer wieder Verdacht aufkeimen. Sie würde sich immer neue Formen von Lügen und Heimlichkeiten ausmalen. Ihre ganze langjährige Ehe müsste ihr nur noch wie eine Lüge vorkommen. Das könnte sie kaum ertragen. Die Wahrheit würde zwar wehtun, falls nicht der Bruder, sondern Herbert der Vater war, aber wäre dies nicht vielleicht leichter zu ertragen als Unwissenheit? Sie könnte sich doch sagen, dass Herbert aus freien Stücken bei ihr geblieben ist und nicht dem Ruf der jungen Frau und des Kindes folgte.
Dann stand sie in dem fremden Ort vor dem Haus, Mühlenweg Nr. 7. Sie wollte gerade klingeln und das Bild zeigen, um zu fragen, ob diese junge Frau hier bekannt sei, da ging die Tür auf. Drei Kinder, wie die Orgelpfeifen, stürmten heraus, allen voran ein kleiner Junge. Käthe erschrak, er sah wirklich aus wie ihr Mann als Kind.
Eine junge Frau, vielleicht dreißig Jahre alt, folgte. "Wollen sie zu uns?", fragte sie und blickte Käthe an, mit den hellen Augen ihres Mannes. Sie hatte Sommersprossen auf der Nase wie er, sie stand vor ihr in der gleichen Haltung wie er. Und diese Lippen, dieses Lächeln, es war unverkennbar sein Lächeln.
Unfähig zunächst ein Wort zu sagen, nahm Käthe nur die vergilbte Seite mit den zwei Bildern aus der Tasche und reichte diese der jungen Frau.
Die junge Frau nahm das Blatt in die Hand, sah sichtlich überrascht darauf, sah Käthe groß an und fragte: "Woher haben Sie das? Das bin ja ich und meine Mutter!"
"Mein Mann ... er ist kürzlich gestorben ... ich fand es in seinen Sachen", mehr konnte Käthe nicht sagen, Tränen drückten in ihren Augen. Für sie gab es keinen Zweifel mehr, sie stand vor der Tochter ihres Mannes, und die drei umherspringenden Kinder waren seine Enkelkinder.
Langsam begriff auch die junge Frau. "Aber meine inzwischen verstorbene Mutter erzählte mir doch damals, mein Vater sei gestorben, ehe mich mein Stiefvater adoptierte", sagte sie verwundert.
"Nein, er ist erst kürzlich gestorben.", antwortete Käthe nun ihrer Sache ganz sicher. Sie war ruhig, aber die Glieder waren ihr wie Blei. Sie drehte sich um und wollte weggehen, wollte allein sein, weinen können, um eine Ehe, die doch wohl anders gewesen ist, als sie die ganzen glücklichen Jahre lang geglaubt hatte.
Aber die junge Frau hielt sie fest. "Bitte, gehen Sie nicht! Ich glaube, Sie müssen mir noch viel erzählen. Bitte, kommen Sie herein!", bat sie.
Für einen Moment standen sie sich stumm gegenüber, die junge und die alte Frau, die das Schicksal ohne ihr Wissen miteinander verbunden hatte. ‚Eigentlich könnten es meine Enkelkinder und meine Tochter sein, wenn – ja, wenn das Leben es so gewollt hätte', dachte Käthe und ging mit ins Haus hinein.
Die junge Frau rief ihre Kinder, dann schloss sich die Tür hinter ihnen.
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