Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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September 2001
Das Haus am Strand
von Katja Nathalie Obring

"Mama, Mama, komm schnell, der Papa ist weg!"
Nassglitzernd stand das kleine Mädchen vor der Stranddecke, zitternd vor Kälte oder auch Aufregung, die Händchen umklammerten die grosse Muschel, deren stachelige Fortsätze zwischen den Fingern hervorragten. Die Mutter sprang auf.
"Was redest du da? Was ist denn los?" Sie fasste die Tochter an der Schulter und blickte ihr ins Gesicht. Ihre Lippen waren blau angelaufen, und in den grünlichen Augen standen Tränen.
"Nun beruhige dich doch erst mal. Erzähl langsam, der Reihe nach."
"Der Papa ist weg! Er – er ist untergetaucht, um mir die Muschel zu holen," sie hielt den Fund der Mutter entgegen, "und ich habe gewartet, und gewartet, aber er tauchte nicht wieder auf."
"Was? Wo denn?"
"Unten, am Strand. Der Papa ist getaucht, aber er ist nicht mehr wiedergekommen. Und ich stand da, am Rand, und, und dann lag da die Musss-" Ihre Stimme brach und verlor sich in einem Wimmern.
Die Mutter drückte sie nieder auf die Decke: "Du wartest hier!", und lief hinunter zum Wasser. Das Meer lag spiegelglatt vor ihr, sanfte Wellen liefen den Strand hinauf, verzweigten sich in ewigem Spiel in immer neuen Kanälen, gesäumt vom leichten Meerschaum. Hier und da dümpelte ein Stück Treibholz, ein zerrissenes Fischernetz hatte sich zwischen einigen Felsen verfangen, und Strandkrabben plünderten die Fundgrube an der Wasserlinie. Sonst nichts. Sie begann zu rufen, erst leise, dann laut, dann wieder leiser.
Schließlich kehrte sie zu ihrem Lager zurück und begann hastig ihre Tasche zu packen. Ihre Tochter saß unbeweglich auf der Decke und presste die Muschel ans Ohr. Die Mutter musste sie am Arm hochzerren. Mit entrücktem Gesichtchen, leise lächelnd, stand sie da, den Blick in die Ferne gerichtet. Der Mutter schauderte es. Unsanft riss sie ihr die Schale aus der Hand und schleuderte sie von sich.
"Ich will das garstige Ding nicht, komm, wir mĂĽssen laufen, Hilfe holen."
Das Kind begann zu weinen.

Die junge Frau wandte sich ihrem Begleiter zu.
"Aber ich konnte die ganze Zeit immer nur an meine Muschel denken, die Muschel, die ihm den Tod gebracht hat. Seine Leiche wurde nie gefunden, weißt du. Und ich, ich dachte immer, wenn ich wenigstens die Muschel gehabt hätte ..." Sie schüttelte den Kopf. "Naja, wir sind noch eine Woche geblieben, falls sein Körper irgendwo angespült worden wäre. An den Strand durfte ich nicht mehr. Eines Tages habe ich mich doch runter geschlichen, aber sie war weg. Dann sind wir nach Hause gefahren. Ein Begräbnis konnte es ja nicht geben. Seitdem war ich nicht mehr hier. Ich weiss nicht, wieso Mama das Haus nicht verkauft hat."
Die beiden standen auf der Veranda eines Bungalows. Über die Dünen konnte man das Meer hören. Die ehemals weiße Farbe blätterte von den Wänden, und die grossen Fenster waren blind vom Dreck. Einige Zypressen säumten die Auffahrt, in der ein dunkler Jeep stand. Das Anwesen war verwahrlost, die Bäume verwachsen, die Wege überwuchert vom Strandhafer. Die junge Frau drehte sich seufzend um und betrachtete das Haus.
"Komm, lass uns anfangen. Wir haben eine Menge Arbeit vor uns."

Eine Woche später hatten sie es geschafft, das Haus war renoviert. Es war gestrichen, geputzt, das Dach geflickt, und blühende Kübelpflanzen säumten die Einfahrt. Der Kiesplatz vor dem Haus war ordentlich geharkt, die Zypressen in Form geschnitten, und der Strandweg wurde deutlich durch dicke Steine zu beiden Seiten markiert.
Als die Dämmerung sich herabsenkte, saß das junge Paar auf der Veranda. Das Abendessen eben beendet, rauchten sie Zigaretten und unterhielten sich.
"Willst du das Haus wirklich verkaufen?"
"Gabriel, ich habe es dir doch schon hundert Mal erklärt. Ich kann mir keine zwei Wohnungen leisten."
"Und was, wenn wir unsere Stadtwohnungen aufgeben, um hier zu leben?" Damit griff er hinter sich und zog aus einem dort stehenden Korb eine groĂźe Muschel, die er am Vormittag im Souvenirladen gekauft hatte. Die stellte er vorsichtig auf den Tisch. Auf einem der Kalkfinger blinkte ein Goldring.
"Maria, warum heiraten wir nicht endlich? Irgendwann musst du die Vergangenheit hinter dir lassen."
Maria sah ihn nicht an, ihr Blick hing an der Muschel. Langsam streckte sie die Hand aus und hob sie vom Tisch. Als sie mit zittrigen Händen das Gehäuse zum Ohr führte, fiel klirrend der Ring zu Boden, wo er sich ein bisschen um sich selbst drehte, bevor er durch eine der Ritzen verschwand. Maria presste mit beiden Händen die Muschel ans Ohr. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
"Ja, ja, Papa – nein, natürlich habe ich dich gesucht – nein, ich konnte dich nicht finden – die Muschel – Mama hatte sie weggeworfen, ich konnte sie nicht mitnehmen – ja, natürlich wollte ich schon früher kommen – aber jetzt bin ich doch da – ja, erzähl mir vom Leben auf dem Meeresgrund – ja, auch von den Meerjungfrauen ..."

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