Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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September 2001
Der Spiegel
von Michaela Grollegg

"Es wird fantastisch!" Beinahe andächtig betrachtete Emma das Ergebnis von Leons tagelanger Arbeit. Sie streckte die Arme aus und lachte übermütig. "Leon, das ganze Haus ist ein Meisterwerk!"
Er lächelte müde. Zwei Wochen lang hatten sie Tag für Tag damit verbracht, ihr neu erworbenes Heim zu renovieren.
Mit der Restaurierung der alten Stuckdecke im Vorhaus war endlich das letzte Stück Arbeit geschafft.
"Das müssen wir feiern!" Emma stürmte in die Küche, um die Flasche Sauvignon Blanc zu holen, die sie extra für diesen Anlass aufgehoben hatte.
In diesem Augenblick klingelte es an der Haustüre.
"Oh nein!" Resigniert ließ sie die Flasche wieder in das Kühlfach zurück gleiten. "Das ist sicher nur Ruth", meinte Leon, der ihr gefolgt war. Wütend wirbelte sie herum. "Ruth, Ruth! Ich kann diesen Namen schon nicht mehr hören! Seit wir hier eingezogen sind, lässt sie uns keine Ruhe!" Besänftigend legte er seine Hand auf ihre schmalen Schultern. "Nun reg dich nicht auf! Sie ist doch nur eine einsame alte Frau, die jemanden zum Reden braucht."
"Sie ist einfach nur lästig", murmelte Emma verärgert, während sie sich auf den Weg zur Türe machte.
"Ach Emma! Wie geht es voran mit der Renovierung? Ich dachte mir, ich bringe euch zur Stärkung eine Apfeltorte vorbei. – Ich hoffe, ihr mögt ...- oh, das ist aber hübsch geworden!" Ehe sie noch reagieren konnte, hatte sich die alte Dame an Emma vorbei gedrängt, um sich staunend im Vorraum umzusehen. "Die alte Mary Kendall hätte ihre wahre Freude an dem Haus, wenn sie das sehen könnte. Wissen Sie, Mary lebte ja ganz alleine hier und in ihrem Alter hätte sie..." –
"Ich weiß, Ruth! Ich kenne die Geschichte von Mary Kendall bereits auswendig", unterbrach Emma den Redeschwall der alten Frau mit frostiger Stimme. Ruth lächelte sanft. "Ach, ich rede schon wieder zu viel, nicht wahr. Aber es macht mich glücklich, so nette junge Leute in der Nachbarschaft zu haben und da vergesse ich manchmal meine guten Manieren", kicherte sie.
Emmas Lächeln erreichte die Augen nicht.
"Danke für die Torte, Ruth", sagte sie nur und schob die alte Frau förmlich zur Türe hinaus.
Der Pappteller mit den Tortenstücken landete schwungvoll auf der Anrichte. "Futter für Benny!" Leon verzog das Gesicht.
"Du hättest ruhig ein wenig netter sein können! Sie meint es doch nur gut!" Emma sah ihn wütend an. "Vergiss den Wein. Mir ist die Lust vergangen..."

*

Fluchend wischte Emma sich den Schweiß von der Stirn. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie noch so viel Gerümpel auf dem Dachboden finden würde. Die alte Mary Kendall scheint ein Faible für Sperrmüll gehabt zu haben, dachte Emma, während sie eine Kiste nach der anderen mit den letzten Habseligkeiten der früheren Hausbesitzerin füllte.
Während sie auf dem staubigen Boden hockte und sich umsah, fiel ihr plötzlich ein Spiegel auf. Er stand in einer Ecke neben der Dachluke, halb verborgen unter alten Decken.
Neugierig enthüllte sie das staubige Relikt, um ihn genauer zu betrachten.
Der versilberte Rahmen konnte eine neue Politur vertragen, und das Glas musste
vom Staub befreit werden.
Emma machte sich voller Vorfreude daran, das gute Stück auf Hochglanz zu bringen.
Wer weiß, vielleicht ist es eine Antiquität, dachte sie und überlegte bereits wieviel er wohl wert sein könnte.
Als das letzte Staubkörnchen beseitigt war, starrte sie fasziniert auf ihren Fund.
Vermutlich war er nicht besonders wertvoll, und nach einer wirklichen Antiquität sah er auch nicht gerade aus, wie Emma mit einem Anflug von Enttäuschung feststellen musste.
Aber Irgend etwas an diesem Spiegel zog sie dennoch in seinen Bann.
Eine seltsame Erregung überfiel sie, als sie die sanft geschwungenen Blumenmuster des Rahmens berührte. Als sie ihn genauer betrachtete, fiel ihr eine Inschrift ins Auge.
"Spieglein nimmt die bösen Seelen, nur die guten lässt er gehen" war in geschwungenen Linien in den Rahmen geschrieben.
Emma streckte ihrem Spiegelbild übermütig die Zunge entgegen. "Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land!" rief sie und brach in Kichern aus.
"Na los, sag schon!" Doch der Spiegel blieb erwartungsgemäß stumm.
"Du hörst wohl nur auf deinen eigenen Spruch", murmelte sie immer noch grinsend.
"Emma!" Erschrocken fuhr sie herum, als Leons Stimme sie aus ihrem übermütigen Spiel riss. "Ich komme gleich, Liebling!"
Sie war gerade im Begriff, nach unten zu gehen, als ein kalter Schauer sie erfasste.
Es war, als würde sie jemand beobachten. Instinktiv wandte sie sich zu dem Spiegel um. Wie gebannt hing ihr Blick an der Inschrift. Ihr Übermut war plötzlich wie verflogen.
Wie unter Zwang begann sie den Schriftzug laut zu lesen.
"Spieglein nimmt die bösen Seelen, nur die guten lässt er gehen."
Ein mächtiger Sog erfasste sie, gerade, als sie den Satz zu ende gebracht hatte. Es fühlte sich an, als würde ihr Körper in hundert Teile zerrissen werden. Sie schrie.
Doch plötzlich war alles vorbei.
Emma blickte an sich hinab. Sie konnte ihren Körper nicht mehr erkennen. Ihre Schreie verhallten lautlos. Sie blickte aus dem Spiegel in den Raum hinein, in dem sie vor Sekunden noch gestanden hatte.
Der Spiegel hatte sie gefangen genommen.
"Oh mein Gott", wollte sie sagen. Aber sie konnte nicht mehr sprechen.
Ihre Gedanken waren völlig klar, nur ihr Körper war nicht mehr existent.
Eine merkwürdige Stille umfing sie.
Und sie schmerzte. Sie fühlte die Schmerzen in ihren Ohren, in ihrem Kopf.
Nur, dass da kein Kopf mehr war.

*

"Nein, Leon! Bei mir war sie nicht!" Ruths betrübter Gesichtsausdruck verstärkte Leons Sorge noch mehr. "Vielleicht ist sie mit dem Hund spazieren gegangen", überlegte die alte Frau. "Ja, vermutlich", murmelte Leon und wollte gerade gehen. Aber Ruth hielt ihn zurück.
Die alte Dame sah ihn mit einer ungewohnten Schärfe an. "Sie lieben Emma wohl sehr?"
Er zog in offensichtlicher Verwirrung die dunklen Brauen hoch. "Natürlich!"
"Deshalb sollten Sie gut auf sie Acht geben", flüsterte Ruth und bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick.
Leon schüttelte ihre Hand verärgert ab. Emma hatte Recht, die alte Frau war tatsächlich nicht mehr ernst zu nehmen.
Brüsk wandte er sich ab und ging grußlos zurück ins Haus.
Er hatte bestimmt fünf Mal vergeblich auf dem Dachboden nach Emma gesucht, aber als er später noch einmal nachsah, fand er sie tatsächlich.
Völlig weggetreten saß sie vor einem alten Spiegel.
"Emma!"
Langsam wandte sie den Kopf und sah ihn mit leerem Blick an. "Der Spiegel..."
"Ich habe dich schon überall gesucht. Wo warst du denn?"
"...er hat mich..."
"Alles in Ordnung?"
Sie nickte nur. Fassungslos.
Es war ihr unbegreiflich, aber der Spiegel hatte sie tatsächlich wieder freigegeben.
Sie wusste nicht, wieviel Zeit verstrichen war. Mit einem Mal war sie unversehens wieder auf der anderen Seite gelandet.
Oder hatte sie all das nur geträumt? Vielleicht war es gar nicht real gewesen...!
Aber trotz ihrer Verwirrung wusste sie, dass es passiert war.
Leon betrachtete sie immer noch mit besorgter Miene.
"Es ist alles in Ordnung, Schatz. Ich war bloß mit dem Hund draußen", log sie.
Es war mehr ein Instinkt, denn ein logischer Gedanke, der sie zu dieser Lüge animierte.
Leon sah sie nachdenklich an.
"Ich hätte wohl auf Ruth hören sollen. Sie meinte das auch."
Emma versteifte sich unwillkürlich.
Vielleicht geschah es in diesem Moment, vielleicht aber auch erst am nächsten Tag.
Emma wusste es selbst nicht so genau. Aber irgendwann in dieser Zeit schmiedete sie den perfiden Plan.

*

Es war am Morgen des nächsten Tages, als Emma, hinter den Gardinen versteckt, ihre verhasste Nachbarin beobachtete.
Ruth hatte Benny, Emmas geliebten Colliemischling, gerade mit einigen Leckerbissen gefüttert.
Bennys Treue zu seiner Herrin schien allmählich zu schwinden. Sobald er Ruth sah, kam er schwanzwedelnd auf diese zugerast.
Emma fühlte kalte Wut in sich hoch kriechen.
Ruth schien alles zu vereinnahmen. Sie betrat ihr Haus, wann immer sie wollte.
Sie versuchte Leon zu vereinnahmen- und nun, nun fraß sogar Benny ihr schon aus der Hand.
Irgendwann, befürchtete Emma, würde sie sich in ihr Leben schleichen und den Tagesablauf bestimmen.
Es war an der Zeit, etwas dagegen zu tun.
Entschlossen trat Emma vor die Türe. "Guten Morgen, Emma!" rief Ruth auch schon freundlich und trat näher.
"Ich sah Leon gerade wegfahren. Wenn Sie sich ein wenig die Zeit vertreiben wollen, würde ich mich auf einen kleinen Kaffeetratsch sehr freuen."
"Zu freundlich von Ihnen, Ruth", säuselte Emma. Als würde ihr gerade etwas wichtiges einfallen, schlug sie sich mit der Hand auf die Stirn. "Ach, ich wollte Ihnen doch etwas zeigen! Kommen Sie kurz mit ins Haus?"
Es schien, als würde Ruth für einen Moment zögern. Aber dann erschien ein strahlendes Lächeln auf ihren faltigen Lippen und sie folgte ihr neugierig.
"Es ist oben auf dem Dachboden. Aber Vorsicht! Die Treppe ist hier sehr schmal", erklärte Emma in gespielter Besorgnis.
Ruth war nicht so gesprächig wie sonst immer. Offenbar fühlte sie sich unwohl bei dem Gedanken, dass sie nun mit Emma alleine in deren Haus war.
Oben angekommen, zeigte ihr Emma voller Stolz jenen Spiegel, in dem sie gestern noch festgesessen hatte.
"Sehen Sie nur, was ich beim Aufräumen gefunden habe! Ich habe leider nicht den richtigen Platz für das gute Stück gefunden. Aber ich dachte...vielleicht können Sie ihn brauchen?"
Erwartungsvoll blickte sie die alte Frau an, die Emmas Großzügigkeit offenbar gar nicht fassen konnte.
"Oh Emma! Das ist ja ein Prachtexemplar!" Sie trat ein wenig näher heran. Doch das Entzücken in ihrem Gesicht verwandelte sich plötzlich in Furcht.
"Er sieht aus wie...- nein, das kann nicht sein", murmelte sie plötzlich erschrocken, " er wurde doch damals zerstört...!"
Emma war zu sehr damit beschäftigt, ihren Plan auszuführen und so hörte sie Ruth schon gar nicht mehr wirklich zu. "Sehen Sie diese Inschrift? Ich kann es so schwer entziffern. Können Sie es lesen?" Begierig wollte sie den Worten lauschen. Aber Ruth starrte mit schreckgeweiteten Augen auf ihr Spiegelbild und rührte sich nicht.
Ungeduldig nahm Emma die Hand der alten Frau und ließ sie die Inschrift berühren. "Was steht da, Ruth? Lesen Sie!" schrie sie.
Gebannt starrte Ruth auf den Spiegel, unfähig ihre Hand wegzuziehen.
"Spieglein nimmt die bösen Seelen, nur die guten lässt er gehen", flüsterte sie schwach.
Und beinahe im selben Moment befand sich Emma alleine im Raum.
Ruth war verschwunden.
Im ersten Moment schien Emma selbst überrascht zu sein, dass es tatsächlich funktioniert hatte.
Das war der Beweis! Das, was ihr gestern widerfahren war, hatte tatsächlich stattgefunden.
Allmählich breitete sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus.
Zufrieden betrachtete sie ihr Spiegelbild. "Arme Ruth! So schnell werden wir dich wohl nicht wiedersehen!"
Im selben Moment fiel ihr jedoch ein, dass sie ihre Wiederkehr aus dem Spiegel unbedingt verhindern musste.
Sie selbst wurde gestern auf wundersame Weise wieder befreit. Natürlich, fiel ihr ein, die guten Seelen lässt er ja gehen!
Aber wie konnte sie sich sicher sein, dass Ruth für immer verschwand? Sie wollte sicher sein.
Emma erinnerte sich daran, dass der Spiegel unter Decken verborgen auf dem Dachboden gestanden hatte, als sie ihn fand.
Vielleicht um zu verhindern, dass die verschluckten Seelen wieder befreit werden konnten?
Ja, überlegte sie, das könnte die Lösung sein. Vermutlich konnte man nur wieder herausgelangen, wenn das Spiegelbild zu sehen war.
Für einen Augenblick zog sie in Erwägung, den Spiegel zu zerstören. Aber sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Er konnte ihr noch nützliche Dienste erweisen. Es gab doch so viele Ruths auf dieser Welt!
Kurz entschlossen stellte sie den Spiegel wieder in die Ecke und überdeckte ihn mit den alten Tüchern. Genau so, wie sie ihn gefunden hatte.
Ruhe in Frieden, dachte sie grimmig und verschloss die Türe.

*

Emma wälzte sich unruhig im Bett hin und her. Sie konnte keine Ruhe finden.
Schweißgebadet erwachte sie aus einem Alptraum. Zitternd lauschte sie in die Dunkelheit. Aber abgesehen von Leons ruhigen Atemzügen neben ihr war nichts zu hören.
Seltsam, es war ihr so gewesen, als hätte vorhin jemand ihren Namen gerufen.
Ruth!
Mit einem Mal war sie hellwach. Ob der Spiegel sie doch wieder freigelassen hatte?
Sie würde ohnehin keine Ruhe finden. Also beschloss sie nachzusehen.
Leise betrat sie den Dachboden. Mit der Taschenlampe in der Hand leuchtete sie jede Ecke des Raumes aus. Aber alles war noch so, wie sie es verlassen hatte.
Als der Lichtkegel die verdeckten Umrisse des Spiegels erfasste, beschlich sie ein mulmiges Gefühl.
Wieder war ihr, als höre sie eine Stimme, die ihren Namen rief.
Für einen Moment hielt sie inne und horchte gespannt. Aber da war nichts.
Wohl um sich selbst zu beruhige, dass nicht Ruth, sondern der Spiegel zum Vorschein kommen würde, schob sie die Decken zur Seite.
Dabei musste sie wohl den Rahmen berührt haben, denn wieder fühlte sie den ungeheuren Bann, der davon ausging.
Wie erstarrt stand sie da und blickte im Schein der Lampe auf die Inschrift.
Und wieder formten sich fast von selbst jene verhängnisvollen Worte auf ihren Lippen.
"Spieglein nimmt die bösen Seelen, nur die guten lässt er gehen."
Im selben Augenblick wurde sie, wie schon zwei Tage zuvor, von einem heftigen Sog erfasst.
"Laß mich wieder gehen", hörte sie sich denken. Irgend etwas war diesmal anders.
Wo war Ruth? War sie auch hier?
Stimmen gellten wieder. "...nimmt die bösen Seelen....nimmt die bösen Seelen-
Nur die guten lässt er gehen..."

*

"Ich verstehe einfach nicht, weshalb sie gegangen ist!"
Leon saß eingesunken in Ruths altem Schaukelstuhl und kämpfte mit den Tränen.
Die alte Frau stand am Fenster und ließ ihren Blick scheinbar in die Ferne schweifen.
"Emma hätte Sie nicht glücklich gemacht!"
Leon sah sie verzweifelt an. "Wie kommen Sie darauf?"
Doch Ruth antwortete ihm nicht. "Was ist eigentlich mit dem Spiegel passiert, den Emma so bewundert hat?"
Verwirrt über den plötzlichen Themenwechsel, schüttelte Leon den Kopf.
"Ich wollte ihn vom Dachboden schaffen und in ihr Arbeitszimmer stellen."
Sein Blick trübte sich wieder.
"Es ist wohl wie ein böses Omen gewesen. Er ist mir auf der Treppe aus der Hand gerutscht und zerbrochen."

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