Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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September 2001
Schlangenzauber
von Marc Bornée

Er zerknüllte fluchend das mit Formeln vollgeschriebene Blatt und warf es zu dem großen Haufen Papier neben dem überfüllten Korb. Kekulé kam einfach nicht weiter. Er rieb sich die roten Augen und sah durch das Fenster hinaus in den Garten hinter dem kleinen Haus, das er während seines Aufenthaltes in Gent von der Chemischen Fakultät freundlicherweise zur Verfügung gestellt bekommen hatte. Sein müder Blick nahm jeden Zweig der alten laublosen Eiche ins Visier, die sich im Gegenlicht der Abenddämmerung abzeichneten. Er hatte hier seit Beginn seiner Forschungen und Experimente jedes Ergebnis in Gedanken wie ein Bild an die mächtigen Äste gehängt. Es war Mitte September im Jahr 1864 und es war früh Herbst geworden. Es fröstelte ihn und er nahm einen neuen Holzscheit und legte ihn auf die dunkelrote Glut in den Kamin. Der heller werdende Kamin begann leise zu knistern und er nahm vor ihm in dem ledernen Sessel Platz.

Seit Beginn seiner wissenschaftlichen Arbeit war er sehr auf visuelle Hilfen angewiesen, die den scheinbaren Wust seiner abstrakten Theorien zusammenhielten. Mit den Jahren hatte sich so ein stattliches Gedankengebäude gebildet, dessen unzählige Zimmer eine Reihe kompliziertester Berechnungen und Strukturformeln beherbergte. Ein architektonisches Meisterwerk. Er schloss die Augen und betrat in Gedanken das große Foyer seines Bewusstseins. Er schaute sich um. Drei Treppen führten in das erste Stockwerk, das er für die frühen Ergebnisse seiner Forschungen gebaut hatte. Zimmer an Zimmer wohnten dort kleine Moleküle und große Atomwolken auf langen Fluren nebeneinander. Er war unschlüssig, welchen Aufgang er benutzen sollte. Im Osttrakt befand sich die große Familie der Kohlenstoffverbindungen, die er bisher formal nachgewiesen hatte. Vielleicht fand er dort die Lösung zu dem Problem, das ihn seit Monaten beschäftigte und das ihm keine Ruhe mehr ließ. Er wandte sich nach rechts und stieg die Stufen zum ersten Stock des Ostflügels empor. Der Schlüssel zum Ergebnis musste dort liegen, in einem der Kohlenstoffzimmer.

Er hatte nachgewiesen, das es Stoffe gibt, die sich aus Molekülen zusammensetzen, die mehr als fünf Kohlenstoffatome besitzen. Dies hatten aufwendige Versuche, Messungen und Berechnungen belegt. Nur die räumliche Ausrichtung, die diese kleinsten Teilchen einnehmen, wenn sie sich zu einem Molekül formieren, bereitete ihm Kopfzerbrechen. Die bisherigen chemischen Gesetzmäßigkeiten ließen eine stabile Struktur bei dem Zusammenschluss von mehr als fünf Kohlenstoffatomen nicht zu. Theoretisch dürften diese Stoffe also gar nicht existieren. Sie taten es aber. Das Benzol war das beste Beispiel. Es fehlte ihm nur der Nachweis.

Er schlenderte den langen Gang entlang, der durch Kerzen, die neben den Türen in feinen goldenen Leuchtern steckten, dezent aber festlich beleuchtet war. Es war so still, dass er außer seinem eigenen Atem nichts vernahm. Die ersten fünf Türen beachtete er nicht. Als er den sechsten Raum betreten wollte, fiel im, etwa in der Mitte des Ganges –noch mindestens 10 Türen entfernt- eine abgebrannte Kerze auf, die eine Lichtlücke in der gleichmäßigen Kerzenreihe entstehen ließ. Er wurde neugierig, seine Schritte wurden schneller. Die zur Hälfte abgebrannte Kerze hing neben der Tür zu einem Zimmer seines Gedankengebäudes, das er nicht kannte. Er konnte sich nicht erinnern, es jemals benutzt zu haben, einem Gedanken oder einer Hypothese dort Wohnraum zugedacht zu haben. Seine Hand griff nach der Türklinke, um den Raum zu betreten. Die Tür war abgeschlossen. Er war irritiert. Der Bauplan in seinem Kopf hatte keine Schlösser in den Türen zu seinen Gedankenzimmern vorgesehen. Intuitiv nahm er eine Schachtel Streichhölzer aus seiner rechten Jackentasche und entflammte den trockenen Docht der Kerze. Es war windstill, das kleine Licht stand unbeweglich. Er hörte hinter der Tür ein leises Kratzen auf dem Parkett. Die Tür ließ sich nun ohne Probleme öffnen. Er betrat mit klopfendem Herzen den Raum. Außer einem großen Holztisch in der Mitte des Raumes war das Zimmer leer. Es war durch diffuses Licht erhellt, das leicht auf den leeren Tisch zentriert schien, er konnte aber keine Lichtquelle ausmachen. Wieder vernahm er ein leichtes Kratzen, das aus der rechten Zimmerhälfte näher kam. Jetzt erkannte er es. Es war eine Schlange, etwa 30 Zentimeter lang, die sich in graziler Bewegung langsam auf ihn zu bewegte. Als hätte sie seine Aufmerksamkeit bemerkt, änderte sie die Richtung auf die Mitte des Raumes hin, schlängelte sich am rechten vorderen Tischbein entlang auf die hell erleuchtete Holzplatte empor und blieb dort reglos liegen. Kekulé blieb wie angewurzelt stehen, sein Blick auf die schwarz-grau gemusterte Schlange fixiert. Was sollte dies bedeuten? Ihm war klar, dass das, was vorging, seinem eigenen Hirn entsprang, er sich in seiner eigenen Gedankenwelt befand. Er musste es laufen lassen, er durfte sich jetzt nur nicht zu sehr konzentrieren, sonst wäre alles vorbei und er würde sich im Vorgarten seines Gedankenpalastes wiederfinden.

Vorsichtig ging er zwei Schritte auf den Tisch zu. Die Schlange bewegte sich nicht. Noch ein Schritt. Nichts geschah. Er war am Tisch angekommen, um den herum es plötzlich dunkler wurde. Nur noch die Schlange war hell erleuchtet. Sie lag lang und starr wie ein Ast am äußersten Rand und er konnte erkennen, wie sich ihre hellrote, gespaltene Zunge nach rechts und links wie ein unruhiger Faden im Wind bewegte. Dann geschah es: Langsam, so als hätte sie nun Mühe, sich zu bewegen, nahm sie den Weg in das Zentrum des Tisches und begann ruhig eine Kreisbahn zu ziehen. Sie beschrieb so etwa drei Runden und hielt unvermittelt in ihrer gleichmäßigen Bewegung inne. Kekulé war fasziniert von diesem ungewöhnlichen Schauspiel, konnte aber keinen Sinn in ihm entdecken. Plötzlich begann die Schlange erneut damit, sich zu bewegen. Diesmal wurden ihre Kreisbewegungen immer schneller und schneller, so schnell, dass seine Augen Mühe hatten, ihr zu folgen. Er vernahm aus der Ferne den Glockenschlag einer Turmuhr und wie auf Kommando verharrte die Schlange in Bewegungslosigkeit. Was er sah, verstand er sofort. Die Schlange hatte sich selbst in den auslaufenden Teil ihres schlanken Körpers gebissen und hielt diesen fest. Wie der Buchstabe "O" lag sie in einem vollendeten Kreis vor ihm. Das war die Lösung! Lächelnd blickte er auf die Strukturformel eines Ringes in der sich die Kohlenwasserstoffatome aneinander binden.

Eine Hand berührte ihn an der linken Schulter und er schrak hoch. "Herr Kekulé, geht es ihnen nicht gut? Kann ich Ihnen helfen?" Es war Anna, die Haushälterin. Er sprang auf und umarmte sie. "Anna, ich habe die Lösung geträumt! Das Benzol mit seinen 6 Kohlenstoffatomen bildet keine Reihe, sondern einen Ring. Nur so kann es bestehen und sich im Raum formieren! Das ist phantastisch!" Wie ein kleiner Junge tanzte er um sie herum und erzählte ihr von seinem Traum, während sie mit zwei neuen Stück Holz das Feuer des Kamins wieder in Gang brachte. Als er die Geschichte fertig erzählt hatte sank er atemlos zurück in den Ledersessel und wartete stolz auf eine Reaktion von ihr.

Annas Gesicht hatte einen seltsamen Ausdruck angenommen und ihr Mund stand halboffen. Sie starrte unter den Sessel, auf dem er wieder Platz genommen hatte und in dem er diesen großartigen Traum hatte. Mit zitternder Hand zeigte sie auf das Parkett unter ihm, das Gesicht kreidebleich. "Dort, unter ihnen, was - um Himmels Willen - ist das?" Er stand sofort auf, rückte den schweren Sessel zur Seite und ging in die Knie, um den seltsamen Gegenstand zu betrachten. Ihm stockte der Atem. Er konnte nicht glauben, was er mit weit aufgerissenen Augen sah: im flackernden Licht des Kaminfeuers glänzte das schwarz-graue Schuppenkleid einer sich gehäuteten Schlange.

Friedrich August Kekulé von Stradonitz (1829 – 1896) studierte zuerst Architektur, wurde aber dann durch Liebigs Vorträge in Gießen derart gefesselt, dass er beschloss, Chemie zu studieren. Seine Strukturlehre ist der Anwendung architektonischer Prinzipien zu verdanken. Die wichtigsten Ergebnisse erreichte Kekulé über den Weg von Visionen. Seine Lehre bestand darin, die Vierwertigkeit des Kohlenstoffs zu postulieren und die Fähigkeit der Kohlenstoffatome sich miteinander zu Ketten und Ringen zu verbinden. 1865 veröffentlichte er die Ringstruktur des Benzols mit alternierenden Einfach – und Doppelbindungen.

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