Seit Beginn seiner wissenschaftlichen Arbeit war er sehr auf visuelle Hilfen angewiesen, die den scheinbaren Wust seiner abstrakten Theorien zusammenhielten. Mit den Jahren hatte sich so ein stattliches Gedankengebäude gebildet, dessen unzählige Zimmer eine Reihe kompliziertester Berechnungen und Strukturformeln beherbergte. Ein architektonisches Meisterwerk. Er schloss die Augen und betrat in Gedanken das große Foyer seines Bewusstseins. Er schaute sich um. Drei Treppen führten in das erste Stockwerk, das er für die frühen Ergebnisse seiner Forschungen gebaut hatte. Zimmer an Zimmer wohnten dort kleine Moleküle und große Atomwolken auf langen Fluren nebeneinander. Er war unschlüssig, welchen Aufgang er benutzen sollte. Im Osttrakt befand sich die große Familie der Kohlenstoffverbindungen, die er bisher formal nachgewiesen hatte. Vielleicht fand er dort die Lösung zu dem Problem, das ihn seit Monaten beschäftigte und das ihm keine Ruhe mehr ließ. Er wandte sich nach rechts und stieg die Stufen zum ersten Stock des Ostflügels empor. Der Schlüssel zum Ergebnis musste dort liegen, in einem der Kohlenstoffzimmer.
Er hatte nachgewiesen, das es Stoffe gibt, die sich aus Molekülen zusammensetzen, die mehr als fünf Kohlenstoffatome besitzen. Dies hatten aufwendige Versuche, Messungen und Berechnungen belegt. Nur die räumliche Ausrichtung, die diese kleinsten Teilchen einnehmen, wenn sie sich zu einem Molekül formieren, bereitete ihm Kopfzerbrechen. Die bisherigen chemischen Gesetzmäßigkeiten ließen eine stabile Struktur bei dem Zusammenschluss von mehr als fünf Kohlenstoffatomen nicht zu. Theoretisch dürften diese Stoffe also gar nicht existieren. Sie taten es aber. Das Benzol war das beste Beispiel. Es fehlte ihm nur der Nachweis.
Annas Gesicht hatte einen seltsamen Ausdruck angenommen und ihr Mund stand halboffen. Sie starrte unter den Sessel, auf dem er wieder Platz genommen hatte und in dem er diesen großartigen Traum hatte. Mit zitternder Hand zeigte sie auf das Parkett unter ihm, das Gesicht kreidebleich. "Dort, unter ihnen, was - um Himmels Willen - ist das?" Er stand sofort auf, rückte den schweren Sessel zur Seite und ging in die Knie, um den seltsamen Gegenstand zu betrachten. Ihm stockte der Atem. Er konnte nicht glauben, was er mit weit aufgerissenen Augen sah: im flackernden Licht des Kaminfeuers glänzte das schwarz-graue Schuppenkleid einer sich gehäuteten Schlange.