Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Andreas Schröter IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Oktober 2001
Rotkäppchen und der Skalpierer
von Andreas Schröter

"Julia, was um Himmels Willen tust du da?"
"Dasselbe, was ich immer mittwochs nachmittags tue." Ich nahm den Camembert aus dem Kühlschrank und verstaute ihn in meinem großen geflochtenen Korb, der bereits mit anderen Lebensmitteln gefüllt war.
"Aber du kannst doch unmöglich jetzt ..."
Meine Mutter wirkte aschfahl in diesen Tagen. Der Mord an ihrem Schwager Hans-Werner hatte sie ungeheuer mitgenommen.
"Darum geht es nicht, Mama, ich muss. Du weißt genauso gut wie ich, dass Oma krank ist und nicht mehr alleine für sich sorgen kann. Wenn ich es nicht tue, tut es niemand, und sie würde elend zu Grunde gehen."
"Der Platz im Altenheim wird nächste Woche frei. Bis dahin wird sie wohl noch genug im Haus haben."
"Nächste Woche ist nicht jetzt, und ,wird sie wohl' heißt, dass du es nicht weißt."
"Hast du denn schon vergessen, was mit Hans-Werner ...?" Ihre Stimme erstarb, und sie brach zum vielleicht tausendsten Mal in ein haltloses Schluchzen aus.
Ich hatte es nicht vergessen. Wie sollte ich auch. Der Mord war das größte Kriminaldelikt, das unser kleines Dorf jemals gesehen hatte. Und in der Zeitung gab es eine riesige Überschrift: "Entsetzen über Skalpierer". Hans-Werners Mörder hatte sein Opfer nicht nur aus nächster Nähe in die Genitalien geschossen, er hatte ihm außerdem etwa 50 Messerstiche beigebracht und ihm später die Kopfhaut abgezogen. Das ganze war jetzt vier Tage her. Die Polizei hatte den Mörder noch nicht gefasst. Das ganze 300-Seelen-Dorf war deswegen in Aufregung. Viele hatten sich in ihren Häusern verbarrikadiert und trauten sich nicht mehr auf die Straße. Wie meine Mutter.
"Du kannst dich ja selbst um Oma kümmern." Mit einem Blick auf meine winselnde Mutter musste ich jedoch fast über meinen eigenen Vorschlag lachen. Meine Mutter war derzeit in einer Verfassung, in der sie sich kaum um sich selbst kümmern konnte. Ich hatte nicht gewusst, dass ihr Hans-Werner so viel bedeutete. Ob sie irgendwann einmal ein Verhältnis mit ihm hatte? Vielleicht hatte sie es sogar bis zu seinem Tod.
Ich nahm die Flasche Rotwein vom Sideboard und verstaute sie ebenfalls. Dann prüfte ich zur Sicherheit den Inhalt des Korbs auf Vollständigkeit, setzte mein rotes Käppi auf und verließ das Haus, ohne mich weiter um meine flennende Mutter zu kümmern.

***

Oma wohnte in einem abgelegenen alten Häuschen am Waldrand. Bis vor wenigen Monaten war sie dort prima zurecht gekommen und hatte auch die Einkäufe - trotz des weiten Weges - gut bewerkstelligt. Doch dann wurde sie krank - so etwas wie eine Lungenentzündung musste es wohl sein - und hatte sich bislang immer noch nicht richtig erholt. Ich hatte schon als Kind eine enge Beziehung zu Oma. Also lag es auf der Hand, dass ich es war, die nach ihr sah und zweimal pro Woche den Einkauf für sie erledigte.
Die einzig befahrbare Straße zu ihrem Haus war ein großer Umweg für mich. Und ich hatte keine Angst, den Mörder zu treffen. Also lief ich wie immer den Weg geradeaus über die in diesen Tagen hoch stehenden Wiesen, sprang über den kleinen Bach und rannte ein Stück an Bauer Harms' Milchkuhgatter entlang. Hinter der nächsten Anhöhe würde ich Omas Häuschen bereits sehen können.
Ich war wohl in Gedanken schon an ihrem Bett - deswegen sah ich die Bewegung hinter einer der dicken Eichen erst relativ spät. Und als eine dunkel gekleidete Gestalt nur zwei Meter vor mir auf den Weg sprang, stieß ich unwillkürlich einen Schrei aus. Es war Bauer Harms' Gehilfe, der tumbe Knut, der mir so unvermittelt gegenüberstand und mich mit seinen angefaulten Zahnstummeln angrinste.
"N-n-n-na J-j-j-ulia, ha-ha-hab ich d-d-d-dich erschreckt?" Sein Grinsen wurde breiter, und ich roch seinen Mundgeruch.
"Lass mich vorbei, Knut, ich hab's eilig." Ich gab mir Mühe, meiner Stimme einen festen Klang zu geben.
"Abba, abba, d-d-du könntest auch mal etwas f-f-f-freundlicher zu dem lieben K-k-k-nut sein ..." Er streckte seinen tatzenhafte Hände nach mir aus und kam einen Schritt auf mich zu.
Ich wich zurück. Es wurde brenzlig. Knut war mir körperlich weit überlegen. Wer wusste schon, was dieser zurückgebliebene Trottel mit mir anstellen würde, wenn er mich zu fassen bekäme.
Mein Vorteil war die Schnelligkeit. Ich machte einen Schritt zur Seite, tauchte unter Knuts Händen hindurch und war an ihm vorbei. Der Kuhhirte erwischte dabei leider mein schönes rotes Käppi. Aber da konnte ich keine Rücksicht drauf nehmen. Ich rannte so schnell ich konnte die kleine Anhöhe hinauf und war noch im Laufschritt, als ich nur noch rund 50 Meter von Omas Haus entfernt war. Knut war mir nicht gefolgt, wie ich mit einem Blick zurück feststellte. Wahrscheinlich wusste der schwerfällige, übergewichtige Blödmann, dass er im Laufen keine Chance gegen mich hatte. Nur würde ich den Rückweg wohl doch über die Straße antreten müssen.

***

Dass Oma nicht allein war, hätte mir schon das Auto verraten, das neben dem Haus stand und nicht ihr gehörte. Wenn ich es gesehen hätte. Es stand auf der - von mir aus betrachtet - anderen Seite des Hauses. So merkte ich erst, als ich den Haustürschlüssel schon beinahe im Schloss hatte, dass etwas anders war als sonst. Laute Geräusche drangen aus dem Haus. Ich zog es vor, es nicht sofort zu betreten. Statt dessen schlich ich in den Gemüsegarten, wo ich ein kleines Butzenglasfensterchen erreichen würde, durch das ich in Großmutters Schlafzimmer sehen konnte.
Was ich sah, gehörte zum Schrecklichsten, was ich jemals im Leben gesehen hatte. Ich glitt mit dem Rücken an der Hauswand hinab und fing hemmungslos an zu weinen. Die Lebensmittel kullerten aus dem Korb, der auf die Seite gefallen war. Es war egal. Oma würde sie nicht mehr brauchen.

***

Drei Stunden später saß ich auf der winzigen Polizeidienststelle unseres Dorfes und machte meine Aussage. Viel Neues konnte ich den Beamten nicht berichten. Sie konnten sich anhand der Funde im Hause meiner Großmutter selbst erklären, was sich zugetragen haben musste. Die Polizei fand, nachdem ich sie alarmiert hatte, meine Oma tot im Bett liegend. Ihr Körper wies mindestens 50 Messerstiche auf, und ihre Kopfhaut war komplett abgezogen. Vor dem Bett lag ein Mann: Wolf Hammerschmidt, mein Vater, der sich vor etwa einem Jahr von meiner Mutter getrennt hatte. Er war ebenfalls tot - getroffen von dem Geschoss einer Pistole der Marke Derringer, die auf dem Fußboden lag - überzogen mit seinen Fingerabdrücken. In einer Art Aktentasche, die meinem Vater gehörte, wie seine persönlichen Papiere darin deutlich machten, fanden die Beamten der Spurensicherung den bluttriefenden Skalp meiner Großmutter. Auf dem Nachttisch lag ein mit krakeliger Handschrift geschriebener Brief mit folgendem Inhalt:

Oh Gott, was habe ich getan. Der verdammte Trieb, einem Menschen die Kopfhaut abzuziehen. Hans-Werner war ein gutes Opfer. Er hätte mir einen Teil von Mutters Erbe weggeschnappt. Wieso musste Mutter mir auf die Schliche kommen? Ich konnte ihr nie etwas verheimlichen. Ich habe die Kontrolle über mich verloren und Mutter ebenfalls umgebracht. Doch mit dieser Schuld kann ich nicht leben. Ich sage der Welt auf immer Adieu!

Keine halbe Stunde später fand die Polizei in Wolf Hammerschmidts Wohnung den Skalp seines Bruders, Hans-Werner.

***

In der folgenden Nacht hatte ich wieder jenen Alptraum, der mich seit den Ereignissen an meinem zwölften Geburtstag immer und immer wieder quält. Hans Werner, Vaters Bruder, drückte mich mit aller Gewalt auf den Boden. Er war viel stärker als ich. Ich hatte ihm nichts entgegenzusetzen. Nicht mal, als er mich nur noch mit einer Hand festhielt, mit der anderen in seine Jackentasche griff, ein Toupet herausholte und es sich schief auf den Kopf setzte. "Damit ich nicht so alt aussehe, während du dein Geburtstagsgeschenk erhältst." Dann knöpfte er sich die Hose auf ...

***

Als ich aufwachte, fielen mir sofort die Geschehnisse am Tag zuvor ein. Und ich konnte die Tränen nicht zurückhalten. Meine Oma war gestorben. Ich hatte sie geliebt - viel mehr als meine Eltern. Sie hatte mir immer Halt gegeben, hatte mich getröstet, wenn ich verzweifelt war. Fast war sie in all den Jahren wie eine Freundin für mich.
Deswegen ist es mir so ungemein schwer gefallen, ihr 50 mal in den Körper zu stechen. Und danach ihren Skalp zu nehmen. Aber es musste sein. Und schließlich war sie zu dem Zeitpunkt schon tot. Gestorben an Herzversagen oder etwas in der Art. Vater war zu spät gekommen. Warum hatte sie eigentlich ihn angerufen und nicht mich?
Der Krach, den ich draußen hörte, rührte von seinen verzweifelten Wiederbelebungsversuchen, die ich dann später auch durch das Fenster beobachten konnte. Es war so entsetzlich, Oma tot zu sehen. Wenig später stellte Vater seine Bemühungen ein, setzte sich auf den Hocker vor dem Bett und hielt sich die Hände vors Gesicht.
Ich kramte meine Derringer, die ich wenige Wochen zuvor in Amsterdam erworben hatte, aus der Jackentasche und schoss meinem verdutzen Vater ins Gesicht. Er war sofort tot. Danach schrieb ich seinen Abschiedsbrief, traktierte meine Großmutter mit dem Messer und skalpierte sie. Den Skalp ließ ich in Vaters Tasche verschwinden. Nachdem ich die Derringer sorgfältig von meinen Fingerabdrücken befreit hatte, drückte ich sie meinem toten Vater in die Hand. Alles sah nach Selbstmord aus.
Bevor ich zur Polizei fuhr, brachte ich noch Hans-Werners Skalp in die Wohnung meines Vaters. Es fiel mir schwer, mich davon zu trennen. Ich hatte mich daran gewöhnt, in meine Handtasche zu greifen und ihn vorzufinden.

***

Wenn ich es mir recht überlege, habe ich mich so sehr daran gewöhnt, dass ich dieses herrlich flauschige, weiche Gefühl an den Händen gar nicht mehr missen möchte. Ob ich diesen Blödmann Knut ...
Aber auch meine Mutter geht mir auf die Nerven. Und sie hat so schön lange Haare. Sie ist übrigens in das abgelegene Haus meiner Oma gezogen, während ich in meiner Wohnung geblieben bin. Mutter geht es immer noch nicht gut. Ich versorge sie. Ich packe Rotwein und Camembert in meinen Korb, setze mein rotes, nagelneues Käppi auf und mache mich auf den Weg.

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
Dieser Text enthält 10107 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.