Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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November 2001
Berliner Mietshaus
von Susanne Tank

Erwin Kratowski trat durch die Hoftür ins Halbdunkel des Flurs. Stundenlang hatte er seinen Keller entrümpelt. Jetzt freute er sich auf ein Bier.
"Herr Kratowski! Kommen Se doch mal her!"
Wie eine aufgescheuchte Henne hüpfte Frau Wiedemann, eine kleine, korpulente Person Ende fünfzig, vor der rechten Erdgeschoßwohnung herum.
Der Rentner ergab sich in sein Schicksal. Das Bier mußte warten.
"Sehen Se doch mal! Ist das nicht 'ne Unverschämtheit? Rücksichtslos ist das!" Erika Wiedemanns Stimme, auch sonst nie leise, schwoll um einige Dezibel an. Sie trat einen Schritt beiseite und gab den Blick frei auf das Objekt ihres Unwillens.
Kratowski kam näher und betrachtete das corpus delichti. Es handelte sich um einen blauen 50-Liter-Müllsack, der bis oben mit leeren Dosen und Flaschen gefüllt war.
"Ach du Schande! Wer stellt denn seinen Müll bei uns ab?" wunderte er sich.
"Na, die NEUE natürlich! Der Sack steht doch neben ihrer Tür!"
Jetzt, stöhnte Erwin innerlich, fängt die Olle wieder an mit ihrem Klagegesang.
Jeder im Haus kannte ihn inzwischen auswendig. Jeder wußte, daß Erika Wiedemann die neue Mieterin auf dem Kieker hatte.
"Die hält sich doch an keine Hausordnung!" legte sie los. "Sechsundzwanzig Jahre wohne ich jetzt hier! Aber sowas ist mir noch nie passiert! Vorige Woche hab ich mich wieder mit ihr wegen dem Schild rumgezankt."
"Was für ein Schild denn?"
"Da! Sehen Se? Das Namensschild an der Tür. May-er-ho-fer", sie dehnte jede Silbe des für sie fremdartigen Namens, "zweimal habe ich es schon abgerissen. Aber sie hängt immer wieder ein Neues auf."
Ihr Finger zielte auf ein postkartengroßes Stück gelbe Pappe, auf der in einer schrägen Computerschrift der Name der Neuberlinerin stand. "Ich habe ihr schon x-mal erklärt, daß es bei uns verboten ist, Schilder an die Tür zu nageln."
"Soweit ich sehe", wagte der Rentner den Redefluß zu unterbrechen, "ist das Ding doch nur mit Tesafilm angeklebt."
"Es ist gegen die Hausordnung!" beharrte die Nachbarin. "Namensschilder gehören bei uns an den Klingelknopf. Das machen wir jetzt schon so seit ich hier wohne! Wissen Sie, was sie da zu mir gesagt hat?"
Sie machte eine Pause, um die Wirkung ihrer Worte zu betonen. "Ich solle mich nicht in alles einmischen, und ich hätte gar kein Recht, ihr Schild abzureißen. Was sagen Sie dazu? Muß ich mir das bieten lassen? Schließlich wohne ich hier seit sechsundzwanzig Jahren und..."
Das wußte Kratowski längst. Er selber brachte es nämlich auf achtundzwanzig.
"Die Frau Mayerhofer wohnt doch erst vier Wochen hier", versuchte er den Zorn der Frau zu dämpfen, "da kann sie nicht alle unsere Gewohnheiten kennen."
"Eine Frechheit!" schimpfte Frau Wiedemann unbeeindruckt weiter.
Da schwang die Haustür auf, und herein trat Sabine Mayerhofer. Sie rang sich ein höfliches "Guten Abend" ab, als sie ihrer Feindin ansichtig wurde. Dann fiel ihr Blick auf das deplazierte Objekt neben ihrer Wohnungstür.
"Was soll denn das?" Sie kickte mit ihrer Schuhspitze gegen den Sack. Die Blechdosen schepperten.
"Das wüßten wir auch gerne, und zwar von Ihnen!" Erika Wiedemann postierte sich breitbeinig vor der neuen Mieterin und verschränkte kriegerisch die Arme vor der Brust. "Das können Se in München machen, aber nicht bei uns! Dies hier ist ein ordentliches Haus! Ich wohne hier seit sechsundzwanzig Jahren..."
"Ich weiß, ich weiß!" seufzte Sabine und suchte in den Taschen ihrer schwarzen Lederjacke nach dem Schlüssel, "dann wird es aber höchste Zeit, daß Sie aufhören, hier Blockwart zu spielen!"
"Werden Se man nicht frech!" funkelte die Kontrahentin sie an. "Eine Schlampe sind Sie! Stellen hier einfach ihren Dreck ab!"
"So ein Schmarren!" schoß Sabine zurück. " Schauen Sie sich den Sack doch mal genauer an. Lauter Bierdosen und Schnapsflaschen! Ganz billiger Fusel!" sie schüttelte vor Ekel ihre rote Haarmähne. "So was trinke ich nicht! Und außerdem kaufe ich nur Pfandflaschen!"
"Mal ehrlich, Frau Wiedemann!" raunte Kratowski der Nachbarin zu. "Wie 'ne Versoffene sieht sie ja nicht gerade aus." Er musterte die modische und durchaus gepflegte Erscheinung der Neuen.
"Ach was!" wurde er belehrt. "Das sieht man denen doch nicht gleich an. Die verstecken ihre Sucht erst mal. Hab ich aus dem Fernsehen. Vera am Mittag." Voller Stolz auf ihr Spezialwissen strahlte sie Erwin an. "Deswegen will sie auch nicht zugeben, daß die Pullen von ihr sind."
Sabine waren die letzten Sätze keineswegs entgangen. "Zum allerletzten Mal! Ich hab den Sack da nicht hingestellt!"
"Hallöchen!" schallte es durch den Flur.
Keiner der drei hatte bemerkt, daß ein großer, schlaksiger Junge von etwa sechzehn Jahren dazugekommen war. Sven, der Sohn von Frau Krüger aus dem zweiten Stock Seitenflügel links, wie die beiden Alteingesessenen sofort erkannten.
"Suchst du was Bestimmtes?" Drei Augenpaare wandten sich ihm entgegen.
"Klar! Den Sack da! Hab ihn vorhin da abgestellt, weil's so geregnet hat. 'Tschuldigen Sie, ich nehm' ihn gleich wieder mit."
"Junge, Junge" ,unkte Kratowski, "kannst aber was vertragen für dein Alter."
"Och nöö", grinste Sven, "das ist 'ne Aktion vom Schülerladen. Einmal in der Woche sammeln wir alles auf, was so rumliegt im Kiez. Die Alkis und Penner schmeißen doch ihre ollen Büchsen überall hin. Sogar auf den Spielplatz, und das Grünstück ist auch immer zugemüllt. Ätzend."
Frau Wiedemann hatte es kurzzeitig die Sprache verschlagen.
"Schönen Abend noch!" Der Junge schwang sich den Müllsack über die Schulter und verschwand. Auch die beiden Älteren wandten sich zum Gehen. Sabine Mayerhofer hörte noch, wie Kratowski auf der Treppe sagte:
"Ist doch eine gute Idee von den Schülern, nicht?"
"Naja", mußte Frau Wiedemann zugeben, "besser, als wenn sie haschen oder Autos knacken."
Und schon war sie wieder in ihrem Element. " So wie dieser Kerl mit den langen blonden Haaren, der letzte Woche ins Hinterhaus gezogen ist. Der handelt mit Drogen, da wette ich! Ach, Herr Kratowski, daß ich das erleben muß! Damals, vor sechsundzwanzig Jahren..."
Gnädig verschluckte das Treppenhaus den Rest.

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