Der Tod aus der Teekiste
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Dezember 2001
Die Zugfahrt
von Karin Graf-Braun

Es ist Frühling. Langsam wandert der Lebenssaft aus den Wurzeln in die Äste zurück. Der letzte Hauch des Winterschlafes steigt als Morgennebel auf.

Fernab im Tal ist das Schnaufen der alten Lok zu hören. Seit Jahrzehnten zieht sie die betagten Waggons den Berg hinauf. Trotz ihres hohen Alters bewältigt sie diese Serpentinenstrecke planmäßig. Sollte sie einmal versagen und verschrottet werden, so wird der Bahnverkehr auf dieser Strecke eingestellt. Dennoch trotzt die Lok ihrem Schicksal.

Im letzten Zugabteil sitzt eine Frau. Ihre Erscheinung erinnert an eine Blüte, die ihre Blätter der Sonne entgegen streckt.
Gegenüber sitzt ein Mann. Sein Äußeres ähnelt einer Eiche im Frühherbst.

Der Mann interessiert sich nicht für die Naturschönheiten der Alpen. Er genießt den Anblick der jungen Frau. Sehr intensiv mustert er sie. Ganz leicht verspürt er eine gewisse Erregung. Eine Erregung, die er schon lange vermisst hatte. Seine Erziehung verbietet es ihm aber, sich diesen Gefühlen hinzugeben. Er denkt schnell an etwas anderes.

Die junge Frau bemerkt seine Blicke nicht. Sie nimmt den Mann nicht wirklich wahr. Sie fährt zu ihrem Ehemann, der in einem Bautrupp der Bundesbahn arbeitet. Dieses Jahr müssen die Arbeiter Gleise über eine neugebaute Brücke verlegen. Die Männer schlafen in einem alten Waggon und kommen wochenlang nicht nach Hause. Daher hat er ihr auch befohlen ihn zu besuchen. Er braucht seine Ablenkung von der Knochenarbeit. Sie denkt an seine Triebhaftigkeit und fröstelt.

Beide Fahrgäste hängen ihren Gedanken nach. Der Zug lässt den Mischwald hinter sich. Kalkstein, Zirbeln und Latschen formen nun das Landschaftsbild.

Plötzlich fangen die Bremsen der Lok zu kreischen an. Immer höher und unerträglicher wird der Ton. Der Zug verliert an Fahrt.

Neugierig späht die Frau aus dem Fenster. Um besser sehen zu können, rutscht sie zur Vorderkante der Sitzbank. Mit einem jähen Ruck bleibt der Zug stehen. Die Frau verliert das Gleichgewicht. Instinktiv öffnet der Mann seine Arme, fängt sie auf und bewahrt sie vor dem Sturz.

Zum ersten Mal sieht die Frau direkt in seine Augen. Sie ist irritiert. Die Blicke scheinen sie zu liebkosen. Er hilft ihr auf die Sitzbank zurück. Beide spüren den Atem des anderen. Ein Duft von Maiglöckchen bleibt in der Nase des Mannes hängen. Auch er ist irritiert.

"Danke", sagt sie. "Entschuldigung."

"Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen", antwortet er.

"Doch, doch", die Frau wird mutiger. "Wenn Sie mich nicht aufgefangen hätten, hätte Schlimmes passieren können. Ich hätte mich verletzen können!"

"Gott sei Dank ist ja nichts passiert", beruhigt sie der Mann.

Die Frau steht auf und blickt in den kleinen Abteilspiegel. Sie zupft mit viel Hingabe ihre Stirnfransen zurecht. Danach befeuchtet sie ihren Mittelfinger mit der Zunge und zieht ihre Augenbrauen nach. Zufrieden lächelt sie ihr Spiegelbild an.

Dem Mann entgeht nichts. Er wird unruhig.

"So!" Mit diesem Wort beendet sie ihre Toilette und setzt sich wieder auf die Bank.

"Müssen Sie noch weit fahren", fragt er schnell. Er will das Gespräch nicht beenden.

"Der Zug hält nur noch an zwei Stationen", wundert sie sich. "Ich steige am Bergsattel aus. Und Sie?"

"Meine Reise ist vorher beendet. Ich steige an der Klamm aus", erklärt er.

"Was wollen Sie denn dort? Da gibt es weit und breit nichts!"

"Einmal im Monat gehe ich die Klamm hinauf. Immer, wenn der Stress in der Fakultät zu groß ist, steige ich auf und lasse das Chaos im Tal zurück. Am Ende der Klamm steht eine alte Sennhütte, kennen Sie die nicht?" Bewusst hängt er eine Frage an.

"Nein, nie was davon gehört. Aber ich kenne diese Gegend eigentlich gar nicht. Ich will nur jemanden besuchen." Sie denkt an die kommende Liebesnacht, an die Grobheit ihres Ehemannes, ihr schaudert. Seine anfängliche Zärtlichkeit hatte schon lange einer Brutalität Platz gemacht, die einer Vergewaltigung ihres Körpers und ihrer Seele gleichkam.

Der Mann bemerkt, dass die Gedanken der Frau nicht mehr beim Gespräch sind. Er holt eine Tüte Drops aus seiner Jackentasche.

"Möchten Sie?". Er hält ihr die Tüte entgegen.

Sie greift hinein, und unabsichtlich berühren sich ihre Finger. Gefühlswellen durchströmen beide Körper. Die Atmosphäre im Abteil wird zunehmend wärmer.

"Wenn Sie nichts besseres vorhaben, dann würde ich Sie einladen, mit mir die Klamm zu durchwandern. Die Wirtsleute in der Sennhütte sind nette Menschen," sagt er forsch. Diese Frau lässt seine Zurückhaltung immer mehr schwinden.

Ihre Augen weiten sich. Sie ist überrascht über seine Kühnheit.

"Und wenn es Ihnen nicht gefällt, können Sie immer noch über den Querweg zum Bergsattel gelangen", fügt er eilig hinzu.

Er möchte sie überreden. Er will ihr Wesen erkunden.

"Nein, es geht nicht! Nett von Ihnen, aber ich kann nicht", wehrt die Frau ab. Die Stimmung im Abteil wird ihr gefährlich angenehm. Da ist ein Mann, der sie fragt und ihr nicht befiehlt. Sie mag den Mann, aber sie darf diese Gefühle nicht zulassen. Sie hat Verpflichtungen. Sie muss das Gespräch abbrechen. Gespielt desinteressiert blickt sie aus dem Waggonfenster.

Die alte Lok setzt sich schnaufend in Bewegung. Schnell gewinnt sie an Fahrt.

Der Mann will die Unterhaltung fortsetzen, aber die Körperhaltung der Frau lädt nicht mehr dazu ein.

Ein paar Minuten später fährt der Zug in den Behelfsbahnhof "Klamm-Türl" ein.

Der Mann erhebt sich und reicht der Frau die Hand zum Abschied.

"Auf Wiedersehen und alles Gute." Sehnsucht schwingt in seiner Stimme mit.

Zögernd nimmt sie seine Hand. Wieder spürt sie dieses Gefühl. Sie sagt nichts. Er wendet sich ab und geht zur Waggontür.

"Warten Sie!", ruft die Frau spontan. "Ich begleite Sie! Der Tag ist noch jung und ich kann ja immer noch den Querweg nehmen!" Diesmal ist sie entschlossen, aus den eingefahrenen Gleisen auszubrechen. Jetzt würde sie endlich entscheiden, was für sie gut und richtig ist.

"Genau! Der Tag ist jung! Wir haben noch viel Zeit," stimmt er zu und hilft ihr aus dem Zug.

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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