Ganz schön bissig ...
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Dezember 2001
Die schönen Münchnerinnen
von Reinhard Mermi

Szenische Kurzprosa


Das Ladengeschäft

Es versprach ein schöner Frühlingstag zu werden. Sie ordnete die Rüschen an ihrem Kragen. Adrett und reinlich mussten die Verkäuferinnen in ihren weißen Schürzen und den blauen Kleidern aussehen. Fest im Glauben und freundlich den Kunden gegenüber. Das hatte der Gründer der Firma und spätere königlich bayerische Hoflieferant von seinem Dienstpersonal gefordert, und das war auch einhundertfünfzig Jahre später noch obligat. Sieben Uhr. Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel, dann lief Claudia die Treppe hinunter, in das Ladengeschäft.


Claudia und Nanette

Sie war ein junges Geschöpf, von zierlicher Gestalt, und sie glich jener Nanette Kaula, die König Ludwig I. in seiner Schönheitsgalerie hatte verewigen lassen. Volles Lockenhaar, das den wohlgeformten Nacken frei ließ, umspielte die weichen Konturen ihres Engelsgesichts.
In Claudias Blick lag ebenfalls diese unschuldige Jungmädchenhaftigkeit, gepaart mit Offenheit und Klugheit.
Ihr warmherziges und ausgeglichenes Wesen zauberten ein zartes Lächeln auf ihre geschwungenen Lippen.


In freudiger Erwartung

Um acht Uhr würden die ersten Kunden eingelassen werden. Da blieb wenig Zeit, um die ganze verführerische Vielfalt von Torten, Petits Fours, Eclairs und Baumkuchenspitzen, die italienischen, französischen und schottischen Gebäckspezialitäten, die erlesenen Kaffeesorten, für den Verkauf vorzubereiten.
Nach außen hin konzentriert und ruhig, steigerte sich mit jedem Klingeln der Ladenglocke die freudige Erwartung in ihr. Es war Mittwoch, und heute würde er in den Laden kommen, um seinen allwöchentlichen Einkauf zu tätigen. Freilich hatten ihre Kolleginnen sie gewarnt, sich mit Joseph Stiegler näher einzulassen. Er war Künstler, und zudem als Weiberheld bekannt. Aber sie schlug alle Warnungen in den Wind.


Das Selbstbildnis

Weiches Tageslicht durchdrang an diesem Spätsommertag die Glasfassade, durchflutete das Atelier, ließ die Konturen zerfließen. Überall an den Wänden lehnten Bilder, mit der blinden Seite nach außen gekehrt und teilweise mit Tüchern abgedeckt. Es roch nach Farbe und Terpentin.
Joseph Stiegler betrachtete kritisch sein Selbstbildnis. Er gefiel sich in der Rolle des Außenseiters, dem die Frauen nachliefen, und es gefiel ihm, was er da geschaffen hatte. Das bleiche Antlitz mit dem Dreitagebart, die Wildheit und Leidenschaft, die bis in die Spitzen seines Haupthaars gegenwärtig waren. Der schmale Mund, der unruhige Blick eines Revolutionärs, der alles und jedes in Frage zu stellen schien.


Die letzte Sitzung

Er nahm den weiblichen Akt und stellte ihn auf die Staffelei. Heute war Claudias freier Nachmittag. Noch diese eine Sitzung, und das Bild war vollendet. Es war das zwölfte von sechsunddreißig. Angetrieben von Rastlosigkeit und Ehrgeiz hatte er seit Tagen bereits nach einem neuen Modell Ausschau gehalten, hatte er schon wieder die ersten zarten Bande zu einer anderen schönen Münchnerin geknüpft. Aber auch dieses Mal würde er die Liebe einer Frau auf dem Altar der Kunst zum Opfer bringen müssen.
Für ihn stand außer Frage, dass er dazu berufen war, die sittsame Galerie der wunderbaren Frauen neu zu interpretieren. Er wollte sich nicht damit begnügen, die Portraits und damit die historischen Idealvorstellungen weiblicher Schönheit zu kopieren. Er wollte vielmehr Größeres schaffen, indem er die Frauengestalten aus der Biedermeierzeit nunmehr mit ihrer ganzen Sinnlichkeit und Erotik darstellte. Wäre er doch nicht zur falschen Zeit geboren worden, dann hätte er dem König sein Werk zum Geschenk anbieten können. Anerkennung und Ehre wären ihm dann sicher gewesen.


Seelenverwandtschaft

Die beiden Frauen aus unterschiedlichen Zeiten waren auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden. Wenn Claudia die Treppe in den Laden hinunterstieg, dann war es mehr als nur ein Ortswechsel von einem Punkt zum andern. Es war eine Zeitreise zurück in die Vergangenheit. Denn mit jedem Schritt tauchte sie mehr und mehr in die Welt des Biedermeiers ein. Dort unten, zwischen den handbemalten Kaffeevasen, den Vitrinen, der Balkenwaage, mit der der Kaffee auch heutzutage von Hand abgewogen wurde, galten noch immer die Regeln und Wertvorstellungen des Firmengründers und königlich bayerischen Hoflieferanten. Es war im weitesten Sinne auch die Welt der Nanette Kaula, welche die Tochter eines Großhändlers gewesen war, und deren Familie als wichtige Hofjuden bereits im Dienste des bayerischen Kurfürsten gestanden hatte. Es waren der Geist, die Traditionen, Gesetze und Prinzipien der altehrwürdigen Münchner Kaufmannschaft, die über die Zeiten hinweg Claudia und Nanette verbanden und die beide geprägt hatten.


Das Isarwehr

Für Stunden war sie durch die Stadt geirrt. Nun kauerte Claudia auf dem schmalen Steg über dem Isarwehr. Ihr Körper wurde von Weinkrämpfen geschüttelt, und unter ihr tosten die grünen Wassermassen. Ein Luftzug umhüllte sie mit nasser Gischt. Noch zauderte sie.
"So, für heute ist Schluss! Du kannst dich wieder anziehen", hatte er ihr mit eiskalter Stimme befohlen.
Wortlos hatte sie sich das Laken über den Körper gezogen, um sich anschließend im Schutz des Paravant anzukleiden. Mit einem dumpfen Schlag war die Tür ins Schloss gefallen. Ihre Liebe und Lebensfreude hatte sie auf der anderen Seite zurückgelassen.
Das Wasser war so kalt wie sein Herz und tief wie ihre Liebe.

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