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Januar 2002
Mein lieber Bruder George
von Andreas Schröter

Mein lieber Bruder George

Möchten Sie Dunvegan Hill kaufen?
Seit vier Wochen lebe ich allein dort.
Für eine alte Frau wie mich ist das Haus mit seinen vielen Fluren, Türmchen und Zimmerfluchten viel zu groß. Vielleicht verkaufe ich es wirklich. Städter würden hier sicher viel Ruhe finden. Der nächste Nachbar wohnt fünf Kilometer weit weg. Hier gibt es nur unser Bächlein, dessen Fließgeräusch viele Besucher als melancholisch bezeichnen. Seltsam – obwohl: irgendwie gurgelnd klingt es schon. Dann ein paar alte Ulmen und viel Weideland. Wind wird hier auf der Anhöhe leicht zu Sturm, der dann mächtig an den leider verrotteten Fensterläden rüttelt.
Wenn doch nur die vielen Erinnerungen nicht wären. Erinnerungen, die mich an Dunvegan Hill binden. An meine Eltern, meine Großeltern und meine drei Brüder. Sogar meine Urgroßeltern haben schon hier gelebt.
Ach, wär doch wenigstens George noch hier. Mein lieber Bruder George. Der George, den ich früher kannte. Was haben wir nicht alles für Streiche ausgeheckt auf Dunvegan Hill. Wir kannten doch nichts anderes. Als wir einmal Dads frisch gepflanzten Radieschen wieder ausgruben, hat er gesagt: „Dort war früher ein Friedhof. Ich an Eurer Stelle würde nicht zu tief graben.“ Das hat mir einen richtigen Schauer über den Rücken gejagt, George, weißt Du das? Obwohl es natürlich nicht stimmte. Wer würde schon sein Haus auf einem alten Friedhof errichten? Papa hat das nur gesagt, um uns von den Radieschen fern zu halten. Meinst du das nicht auch? Und doch habe ich lange an den Friedhof geglaubt.“
Denkst du manchmal noch an Mildred, dieses blasse, dünne Mädchen, in das du einen Sommer lang so vernarrt warst? Jetzt weiß ich’s wieder – sie war unsere Cousine oben aus Inverness, die für drei Monate bei uns war. Wir müssen damals so um die 19 oder 20 gewesen sein. Ich war ganz eifersüchtig auf sie. Mein Gott, ist das schon lange her. Mindestens 40 Jahre.
Warum hast du zuletzt immer so merkwürdige Sachen gesagt? Ich konnte dich nicht mehr hier behalten – musste dich in dieses schreckliche Heim geben. Verstehst du das wenigstens? Niemandem fiel diese Entscheidung schwerer als mir. Bitte glaube mir das. Aber es ging nicht mehr. Du hattest 25 Kilo abgenommen, warst weiß wie die Wand und zittertest am ganzen Körper. Immer wieder habe ich dich gefragt, was denn los sei. Ich habe dich gepackt und geschüttelt, um das, was dich bedrückt, aus deinen Körper zu treiben, doch es ist mir nicht gelungen. Mit einer schrecklich hohlen Stimme, die gar nicht mehr zu dir zu gehören schien, hast du geantwortet: „Wer A sagt, muss auch B sagen“. Wenn ich nur wüsste, was du damit gemeint hast, mein lieber George.
Ich weiß noch genau, wann alles anfing. Es war am letzten Mittwoch im November. Wir saßen im alten Herrenzimmer, das Feuer im Kamin prasselte, und wir spielten eine Partie Bridge. Um den Abend noch gemütlicher zu machen, hattest du die fünf Kerzen-Kandelaber angezündet und das elektrische Licht ausgeschaltet. Der Sturm war an diesem Abend besonders heftig. Du sagtest: „Julia, wir müssen im Frühjahr doch einmal daran gehen, die Fensterläden zu erneuern.“ Wenn ich es mir recht überlege, war dies der letzte vernünftige Satz, den du gesagt hast. Oh, George, wie kann ich dir bloß helfen?
Plötzlich hobst du den Kopf und schautest in meine Richtung. Ich dachte, du wolltest etwas sagen, weil ich gerade eine besonders gute Karte gespielt hatte. Aber dann sah ich, dass du auf einen imaginären Punkt knapp über mir blicktest. Es war, als hörtest du etwas. Doch da war nur das Klappern der Fensterläden und das Prasseln des Feuers.
„Was ist, George?“, fragte ich dich. Du antwortetest zunächst nicht, aber ich sah, wie alle Farbe aus deinem Gesicht wich und sich Schweißtropfen auf deiner Stirn bildeten. Dann begannst du, unzusammenhängende Worte zu flüstern, die immer wieder von kürzeren oder längeren Pausen unterbrochen wurden – so als antworte dir jemand.
„Aber – nach all der Zeit – doch nicht – ich kann doch nicht – nur ein Spiel.“
Ich dachte, du wärst auf unser Bridge-Spiel zurückgekommen und sagte: „Genau, George, lass uns unser Spiel weiterspielen“.
Doch du schienst mich gar nicht zu hören. Statt dessen standest du auf, griffst nach einem der Kandelaber und gingst langsam – so als seist du gar nicht richtig bei dir – zur Kellertreppe. Ich sah noch, wie du die Stufen hinunterschlichst – immer wieder die seltsamen, unzusammenhängenden Worte vor dich hin murmelnd.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Dich aufhalten? Dich begleiten? Doch was wolltest du im Keller, den wir nur noch alle Jubeljahre einmal betraten? Du weißt, dass ich immer Angst vor dem Keller hatte. Dort gab es dieses Fenster, durch das man auf nichts anderes schaute als auf nackte, lehmige Erde. Es hatte offenbar in früheren Zeiten einmal ins Freie geführt, bevor an dieser Seite des Hauses ein Erdhügel angeschüttet wurde. Niemand hat es je zugemauert. Ich weiß nicht, vielleicht hängt meine Angst vor diesem Fenster immer noch mit dem blöden Spruch unseres Vaters von damals zusammen. Du weißt schon, der mit dem Friedhof, als wir die Radieschen ausgegraben hatten. Das Fenster im Keller ging genau auf diesen natürlich gar nicht existierenden Friedhof hinaus. Wenn Papa damals gewusst hätte, was er damit jahrelang in mir anrichten würde, hätte er bestimmt nichts gesagt.
Nach ein paar Minuten kamst du aus dem Keller zurück und stammeltest: „Nichts – da ist nichts.“
„Natürlich ist dort nichts“, sagte ich, „lass uns weiterspielen.“ Ich war froh, dass es dir wieder besser zu gehen schien. Und tatsächlich konzentriertest du dich wieder aufs Spiel, auch wenn du ein nervöses Flackern in den Augen nicht verbergen konnte. Auch hatte ich das Gefühl, dass du ständig auf irgendetwas lauschtest.
An den nächsten Abenden wurde es schlimmer. Ständig riefst du Worte wie „Nein – ich will nicht – ich lösche unsere Vereinbarung“ – dann oft ein langgezogenes „Nein“. Immer wieder gingst du in den Keller. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass du es gar nicht wolltest, dich innerlich dagegen wehrtest, aber nicht anders konntest, als doch hinunterzugehen.
Verstehst du, warum ich dich einfach in dieses schreckliche Heim bringen musste? Weg von Dunvegan Hill, weg von unserem Keller? Ach, wie gerne würde ich dich wieder zurückholen. Aber ich habe Angst, dass es dann wieder von vorne losgehen würde. Zum Schluss hattest du Schaum vorm Mund, rotgeränderte Augen und warst der Schatten eines lebendigen Menschen. Als die Männer kamen, um dich zu holen, warst du nur noch ein Häuflein Elend, mehr tot als lebendig. Aber immer noch stammeltest du diese unsinnigen Worte – etwas wie: „nein – bitte nicht – geh doch weg.“ Meintest du mich damit? Nun, ich bin nicht nachtragend. Ich weiß doch, dass du es nicht so meintest und diese Worte nur Ausfluss deiner geistigen Umnachtung waren. Ich hoffe so sehr, dass die Ärzte etwas für dich tun können.
Neulich, nachdem du schon eine ganze Weile weg warst, ist etwas Merkwürdiges passiert. Es war wieder Sturm – ein ähnlicher Sturm, wie an dem Abend, als wir Bridge spielten. Die Fensterläden klapperten, doch diesmal meinte ich, dasselbe Geräusch auch aus dem Keller zu hören. Kannst du dir das vorstellen? Es kann doch nicht sein, dass ein Fenster im Wind klappert, hinter dem nur Erde ist. Dort unten ist doch gar kein Sturm. Ich habe mich überwunden und bin hinuntergegangen. Und es war natürlich wirklich nichts. Alles still. Das Fenster hat nicht geklappert. Wie sollte es auch? Weiß der Teufel, was ich da gehört habe. Aber ich habe es in den folgenden Nächten noch öfter gehört – sogar, wenn gar kein Sturm war.
Weißt du, dass ich in letzter Zeit manchmal an deine alte Liebe Mildred denken muss? Wahrscheinlich, weil ich neulich ihre Todesanzeige gelesen habe. Sie ist am 26. November gestorben. Kann es sein, dass das die Nacht war, in der wir Bridge spielten und deine Krankheit begann? Ihr wart damals vor 40 Jahren so eng befreundet. Ich glaube, es war der einzige Sommer in unserem ganzen Leben, in dem jemand unsere Zweisamkeit gestört hat, George. Ich war so eifersüchtig. Ich habe so gelitten, wenn Ihr in der Scheune gesessen und getuschelt habt. George, darf ich dir ein Geheimnis anvertrauen? Ich mochte sie nie so richtig. Sie wirkte immer so ernst. Alles, was sie tat, war immer so geheimnisvoll und so düster. Hast du sie ein einziges Mal lachen sehen? Am schlimmsten fand ich ihre Spielchen und dass du immer darauf eingegangen bist. Ich weiß noch, wie sie einmal verschwörerisch deine Hand nahm und sagte:
„Du musst mir etwas versprechen, George.“
„Was denn?“
„Dass du immer für mich da bist. Dass ich immer zu dir kommen darf und bei dir Unterschlupf finde.“
„Na gut, ich verspreche es.“
„Auch, wenn ich schon tot bin?“
Da hast du laut gelacht und gesagt: „Ja, sicher, klar, komm nur!“
„Wirklich? Dann schwöre es.“ Mildred hat nicht gelacht. Sie hat nie gelacht.
Du hast die Hand gehoben und es ihr geschworen.
Entschuldigen Sie bitte, jetzt habe ich mehr zu meinem Bruder George als zu Ihnen gesprochen. Möchten Sie Dunvegan Hill vielleicht kaufen?

© Andreas Schröter 2002


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