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Januar 2002
Der erste Versuch
von Annemarie Nikolaus

Der erste Versuch

François fasste Erika an den Schultern und gab ihr einen Stoß. Die Brandung, die ĂŒber ihr zusammenschlug, verschluckte ihren Aufschrei. Prustend und lachend tauchte sie wieder auf. François half ihr auf die Beine, bevor die nĂ€chste Welle heranrollte.
Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete Ingrid sie von ihrem Liegestuhl aus. Immer machte ihre rot gelockte kleine Schwester das Rennen, wĂ€hrend sie selbst stocksteif daneben stand und nie wusste, was sie sagen sollte. Dabei waren Erika die Jungs völlig egal – sie sammelte gebrochene Herzen wie andere Leute Briefmarken. Nicht, dass Ingrid sonderlich scharf auf die Verehrer ihrer Schwester gewesen wĂ€re: WĂ€hrend sie Erika den Hof machten, hatte Ingrid Gelegenheit, sie ausgiebig zu studieren und dabei festzustellen, was fĂŒr Trottel sie allesamt waren. Aber es Ă€rgerte sie, dass sie stets die zweite Geige spielte.
François hatte Erika los gelassen und kam auf sie zu: „Ingrid, viens avec nous!“
„ François, je non 
 - François, ich kann doch kein Französisch!“, sagte sie klĂ€glich. Auch das hatte Erika ihr voraus: Sie war ein Sprachtalent.
François lachte sie an: „Komm! Schwimmen keine Sprache.“ Er zog sie hoch. Der Sand war glĂŒhend heiß; schnell hob sie einen Fuß. „Komm“, wiederholte François und hielt sie fest an der Hand. Widerstrebend ließ sie sich von ihm ins Wasser ziehen.
Als sie bei Erika angekommen waren, stĂŒrzte François sich mit einem weiten Sprung in die Wellen. Die Schwestern sahen ihm nach, wĂ€hrend er in Richtung Boje schwamm.
„Ich glaube, er hat ein Auge auf dich geworfen“, sagte Erika. Ingrid sah sie unglĂ€ubig an. „Doch, doch – warum sonst versucht er dauernd, dich zum Mitmachen zu animieren?“
„Mir liegt gar nichts an ihm“, entgegnete Ingrid.
„Na und?“ Erika lachte. „Kein Grund, es nicht auszuprobieren. Wir sind schließlich im Urlaub.“
„Na hör mal“, protestierte Ingrid. - ‚O nein‘, dachte sie. ‚Ich brauch‘ es mir nicht auch noch bestĂ€tigen zu lassen, was fĂŒr eine graue Maus ich bin.‘
„Ach, hab dich nicht so! Was ist denn dabei?“
Ingrid schaute ihre Schwester zweifelnd an.
François schwamm gemĂ€chlich auf sie zu. Erika winkte ihm und rief in ihrem perfekten Französisch: „Ich geh uns was zu essen holen. In einer halben Stunde bin ich wieder da. Macht keine Dummheiten, ihr zwei.“ Sie zwinkerte Ingrid zu und stapfte ans Ufer.
Ingrid schluckte. Mit einem flauen GefĂŒhl im Magen sah sie, wie sich ihre Schwester entfernte und François nĂ€her kam. Verlegen lĂ€chelte sie ihn an, als er sie erreicht hatte. Ihr fiel nichts ein, was sie sagen oder tun konnte.
Er lĂ€chelte zurĂŒck. „Komm schwimmen.“
Erleichtert nickte sie. Schwimmen war unverfĂ€nglich – und eines der wenigen Dinge, die sie gut konnte. Sie rannte der nĂ€chsten Schaumkrone entgegen, tauchte unter ihr durch und hielt dann auf die Boje zu. Dort hĂ€ngte sie sich mit einem Bein an die Ankerkette und ließ sich rĂŒcklings treiben. Ihre langen dunklen Haare breiteten sich fĂ€cherförmig im Wasser aus. Mit geschlossenen Augen genoss sie die SonnenwĂ€rme auf ihrem Gesicht.
François war ein StĂŒck hinter ihr zurĂŒckgeblieben. Sie rĂŒhrte sich nicht, als er sie erreichte. Erst als sie einen Zug an ihren Haaren spĂŒrte, wandte sie sich um.
„Du bist schnell“, sagte er anerkennend. „Und jetzt, la belle sirĂšne 
 wartet auf arme SchiffbrĂŒchige und wird sie in die Tiefe ziehen.“
Ingrid kicherte und wusste keine Antwort.
„‘hĂ©! Du kannst ja lachen“, schmunzelte François und fĂŒgte dann hinzu: „Das ist das erste Mal, dass du lachst. Toi et Erika - wie verschieden ihr seid. Deine Schwester ist immer lustig. Ich glaube, sie nimmt nichts ernst. Du bist still und nachdenklich.“
Ingrid dachte: ‚François ist anders als die Deppen, die Erika sonst abschleppt.‘ Sie freute sich ĂŒber seine Worte, fĂŒhlte sich anerkannt. ‚Vielleicht hat er wirklich ein Auge auf mich geworfen. Vielleicht sollte ich doch versuchen, es herauszufinden.‘ Probehalber lĂ€chelte sie ihn an, aber er zeigte keine Reaktion.
François hielt sich an der Ankerkette fest und ließ sich neben ihr treiben. Verstohlen sah Ingrid zu ihm hin. Er bemerkte ihren Blick und lachte: „FĂŒnf Sous fĂŒr deine Gedanken!“
„Zu wenig!“, antwortete sie und kam sich sehr kĂŒhn dabei vor.
Er ging darauf ein: „Bien sĂ»r; pardon. Deine Gedanken sind natĂŒrlich nicht zu bezahlen.“ Er versuchte, ein zerknirschtes Gesicht zu machen.
Ingrid lachte auf; sie fĂŒhlte sich plötzlich unbeschwert und ĂŒbermĂŒtig: ‚Jetzt will ich es wissen!‘ Sie löste sich von der Boje. FĂŒr einen Moment war ihr Gesicht dicht neben dem seinen. Scheinbar zufĂ€llig berĂŒhrte es seine Schulter. „FĂ€ngst du mich?“, fragte sie und schwamm aufs offene Meer zu.
Diesmal ließ sie sich Zeit und nach wenigen Metern hatte er sie eingeholt. François hielt sie fest: „Nicht so weit. Die Ebbe hat begonnen; hier draußen gibt es gefĂ€hrliche Strömungen.“ Er schien wahrhaftig besorgt.
Ingrid lehnte sich gegen ihn. „Ich weiß. Aber was kann uns passieren, wenn wir zwei zusammenhalten!" Mit stockendem Atem sah sie ihm ins Gesicht. ‚Ob er die doppelte Bedeutung verstanden hat?‘ – Aber dann wollte sie es lieber doch nicht wissen. Bevor er reagieren konnte, tauchte sie weg.
François erwischte einen ihrer FĂŒĂŸe. „Wenn wir zwei zusammenhalten - - was meinst du?“ Er zog sie zu sich und blickte sie fragend an.
‚Soll ich mich nun kĂŒssen lassen? - Ja! - Jetzt bin ich so weit gegangen - wenn schon, denn schon‘, entschied sie, bemĂŒhte sich um ein verheißungsvolles LĂ€cheln und schloss voller Erwartung die Augen.

© Annemarie Nikolaus



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