Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Januar 2002
Ladinas große Chance
von Romy Schmidt

Ladinas grosse Chance

„Bap, bitte lass mich mitkommen. Ich bin stark genug und mache ganz bestimmt nicht schlapp.“
Ladina schaute ihren Vater flehend an. Dies war ihre Chance. Normalerweise durften immer nur ihre beiden Brüder mit. Ob es darum ging, das Vieh in den Wald zu treiben, wenn es im Sommer unverhofft schneite, oder ein Tier abstürzte.
Heute morgen kam der Rinderhirt schon sehr früh. In der Nacht hatte sich ein Gewitter entladen; dabei war wohl ein Rind ausgerutscht und ins Tobel hinunter gestürzt. Der Hirt konnte nicht erkennen ob das Tier noch lebte oder nicht. Der Vater holte die Landkarte hervor, mit deren Hilfe er die Koordinaten ausrechnete. So konnte er der Rettungsflugwacht die genaue Absturzstelle angeben.
Ladinas Brüder waren noch in der Schule. Die Chance für Ladina. Wenn sie Glück hatte, durfte sie mit dem Helikopter fliegen.
Der Vater schaute Ladina zweifelnd an.
„Wir müssen bei der Brücke hinunter klettern und dem Bach entlang gehen. Gaudenz wird auch mitkommen. Wirst du es denn auch durchhalten? Wir müssen zügig gehen und können nicht immer auf einen Dreikäsehoch warten.“
Ladina verdrehte missmutig die Augen.
Die Jungs durften auch schon mit dreizehn Jahren mitgehen, mit dreizehn durften sie auch schon den Heukran und den Traktor fahren, ich aber nicht, obwohl ich schon im Frühling dreizehn geworden bin. Bap läst mich sicher nur nicht, weil ich ein Mädchen bin!
Ladina sah, wie Vater der Mutter hilfesuchende Blicke zuwarf. Aber sie wusste, dass sie sich auf Mama verlassen konnte.
Diese lachte: „Andri, das regle selber mit Ladina, da mische ich mich nicht ein.“
„Na gut, aber denke daran, wer A sagt, muss auch B sagen. Umkehren geht nicht. Wir brauchen dich vermutlich zum Anseilen. Los, beeile dich! Gaudenz wartet schon.“

Bei der Brücke mussten sie den Pfad verlassen und zum Bach hinunter klettern. Das Wasser stürzte mit wildem Getöse ins Tal. Das Gewitter in der Nacht hatte das Wasser aufgewühlt, es zu einem braunen gefährlichen Ungetüm gemacht. Die eiskalte Gischt spritzte Ladina immer wieder ins Gesicht, so nah waren sie dem Bach. Andri ging voraus, dann kam Ladina, und das Schlusslicht bildete Gaudenz. Ladina brauchte ihre ganze Konzentration, um auf den glitschigen, nassen Steinen nicht auszurutschen. Wenn der Vater nur einmal für eine kurze Rast anhalten würde. Aber Ladina ließ sich nichts anmerken. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte in einem gleichmäßigen Rhythmus zu atmen. Die Tannen wuchsen zum Teil bis an den Bachrand. Sie kämpften sich mühsam durch das Dickicht. Es brauchte Ladinas ganze Kraft, die schweren Äste so lange zu halten, bis Gaudenz sie fassen konnte, damit die Äste ihm nicht ins Gesicht schlugen. Dabei rann das Wasser der tropfnassen Äste in ihren Pulloverärmel. Nass und kalt lief das Wasser ihr bis an den Ellenbogen. Die Hände taten ihr weh, und die Lunge stach bei jedem Atemzug. Endlich hielt Andri an, um sich mit Gaudenz zu besprechen. Ladina setzte sich inzwischen auf einen Stein, der ihr einigermaßen trocken schien. Eine kleine Eidechse fesselte ihre Aufmerksamkeit. Mit flinken Bewegungen flitzte sie zwischen den Steinen herum. Geschickt fing Ladina sie und ließ sie über ihre Handrücken wieder fliehen.
„Kannst du noch?“ Andri stand neben Ladina und schaute sie fragend an.
„Sicher, ich bin noch überhaupt nicht müde, war doch ein Kinderspiel.“
„Na dann los. Wir sind gleich dort.“

Tatsächlich erreichten sie zehn Minuten später eine kleine Sandbank. Das Rind lag zur Hälfte im Wasser. Eine umgestürzte Tanne verhinderte, dass das Rind ganz ins Wasser fiel und von der Strömung mitgerissen wurde. Es lebte noch, ihr Atem ging schwer und unregelmässig. Ladina kniete sich neben den massigen, braunen Körper. Das Tier tat ihr so leid. Tränen füllten ihre Augen. Zärtlich kraulte Ladina dem Rind zwischen den Ohren, während die beiden Männer das Rind untersuchten.
„Die beiden hinteren Beine sind gebrochen. Sie scheint sehr weit gefallen zu sein.“ Gaudenz, schaute den Felsen hinauf. „Ein Wunder, dass sie noch lebt.“
Andri kniete sich neben Ladina. „Hör Ladina, ich muss die Kuh töten, sie hat höllische Schmerzen. Gleich kommt der Helikopter, wir wollen sie nicht noch mehr Qualen aussetzen.“
Ladina wusste, dass sie den Anblick nicht ertragen würde. Sie stand auf und ging ein paar Schritte. Sie wollte einfach nicht hin schauen, bis alles vorbei war. Aber wohin sie sich auch drehte, sie sah immer die großen, traurigen Kuhaugen vor sich.
Gaudenz musste, um das Rind zu töten, ins eisige Wasser gehen. Das Tier bäumte sich noch einmal auf, dadurch löste sich die Tanne. Nichts hielt den leblosen Körper mehr auf der Sandbank. Von der Strömung erfasst, überrollte er sich und begrub Gaudenz unter sich. Zwei Steine verhinderten, dass der Körper weiter getrieben wurde. Das ganze Gewicht lag auf den Beinen von Gaudenz. Mit viel Mühe und Kraft konnte er seinen Kopf über dem Wasser halten. Immer von neuem schossen die Wassermassen über seinen Kopf hinweg.
Ein Schrei ließ Ladina herumwirbeln. Sie sah, wie ihr Vater ins Wasser rannte. Nur ein paar Sekunden brauchte sie, um die ganze Situation zu erfassen; dann lief sie ebenfalls los.
Das Wasser füllte ihre Schuhe in Sekundenschnelle. Eiskalt wie Eisenklammern umschloss es ihre Beine. Die Strömung war so stark, dass sie nur Schritt um Schritt, vorwärts kam. Immer wieder suchte sie mit den Händen Halt an den Steinen. Endlich war sie bei Gaudenz und ihrem Vater angekommen. Ihr Vater versuchte mit seiner ganzen Kraft, die Steine vor dem Rind zu bewegen.
„Steh hinter Gaudenz, versuche seinen Kopf über Wasser zu halten.“
Ladina stellte sich gegen die Strömung. Griff von hinten unter die Arme von Gaudenz. Drückte dann, mit Hilfe der Strömung und ihrem Körpergewicht, den Oberkörper ihres Nachbarn über Wasser. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie dies durchhalten würde. Die Kälte stach sie wie feine Stecknadeln. Der ganze Körper schmerzte bis hinauf unter die Haarwurzeln. Am liebsten hätte sie geschrieen. Aber sie biss krampfhaft auf die Zähne. Tränen der Angst und des Schmerzes liefen ihr über die Wangen. Aber sie durfte nicht aufgeben. Sie wusste: Es ging um das Leben von Gaudenz.
„Lieber, lieber Gott hilf mir!“ Sie wollte beten, doch kein Gebet kam ihr in den Sinn. In ihrer Verzweiflung hörte sie nicht einmal den Helikopter. Erst als Vater ihr zurief und gegen den Himmel zeigte, erblickte sie den roten Punkt, der schnell näher kam und immer grösser wurde. Es kam ihr wie ein Wunder vor.
Schon angelte sich Andri das Seil, das der Helikopter herunter liess. Ladina schien es, als verginge eine Ewigkeit, bis es ihrem Vater gelang, das Seil um das Rind zu binden. Sobald der Helikopter mit dem Tier davon flog, zogen die Beiden Gaudenz aus dem eisigen Wasser auf die Sandbank. Gaudenz stöhnte und schrie. Er schien schreckliche Schmerzen zu haben.
„Er muss sofort ins Spital.“
Andri holte seinen Funk aus dem Rucksack und verständigte sich mit dem Helikopter.
„Sie haben das Rind schon abgeladen, gleich holen sie ihn. Leider wird nichts aus dem Helikopterausflug, sie können nur eine Person mitnehmen. Schau, der Helikopter kommt schon.“

Der Helikopter wurde immer kleiner am Himmel. Erst jetzt bemerkte Andri, wie seine Tochter vor Kälte schlotterte. Er half ihr, den nassen Pullover auszuziehen und zog ihr den Ersatzpullover über, den er vorsorglich immer in seinem Rucksack mitnahm. Er reichte ihr bis zu den Knien. Aber es tat gut, etwas Trockenes am Leibe zu tragen.
„Komm, jetzt aber schnell nach Hause.“
„In die Badewanne gehe aber ich zuerst!“ Ladina grinste.
„Sicher, das hast du dir auch verdient. Ehrlich gesagt, hätte ich nicht gedacht, dass du durchhalten wirst. Du hast dich wacker geschlagen. Hut ab, ich bin richtig stolz auf dich.“
„War doch Ehrensache, ich bin ja auch schon dreizehn.“ Ladina zwinkerte ihrem Vater fröhlich zu.



(c) Romy Schmidt



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