Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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Februar 2002
Hungry Eyes
von Lutz Schafstädt

Hungry Eyes

Melodien sind Lesezeichen für unser Gedächtnis. Oft werden sie gezielt an Ereignisse geknüpft und immer wieder bemüht, zu verblassen drohende Bilder wieder aufzupolieren.
Manchmal jedoch markiert sich ein Kapitel der Erinnerung auch ohne unser Zutun. Von neuen Eindrücken verdrängt verschwindet es im Hintergrund, wird unbedeutend, vergessen.
Bis zu der Sekunde, die uns plötzlich aufhorchen lässt. Dann nehmen wir uns eine Auszeit und steigen hinab in das Bildarchiv unserer Erlebnisse. Nicht immer finden wir sofort zum Ziel und tasten uns, geleitet von einem vagen Gefühl, langsam vor.

Ich sprach ihn auf dem Parkplatz an und bat, mich mitzunehmen. Der nächste Bus würde erst in Stunden fahren. Mit einer Handbewegung willigte er ein und ich stieg zu ihm ins Auto. Er war gut zwanzig Jahre älter als ich und ging, vielleicht deshalb, wie selbstverständlich zum Du über, als er mit mir sprach. Der erste Gesprächsstoff aus kurzen Fragen und Antworten war schnell verbraucht. Unsere Wortwechsel wurden spärlicher, bis wir schließlich schwiegen. Die Minuten dehnten sich. Er schaltete das Radio ein.
„Hör Mal, sie spielen ‚Hungry Eyes’, von Eric Carmen.“
„Ja, kenne ich auch“, erwiderte ich.
Ich suchte die nächsten Worte, um einen Gesprächsfaden daraus zu spinnen. Er kam mir zuvor:
„’Hungry Eyes’. Lange her. Es erinnert mich an irgendwas.“
Dankbar wandte mich ihm zu und signalisierte mit einem Blick Interesse.
„Mitte der siebziger Jahre war es, glaube ich. Ich war Teenager, so um das letzte Schuljahr herum. Die spannendste Zeit. Die ungeduldigste, in der man alles sofort erleben will und alles was Mühe kostet vertagt. Die egoistischste auch, weil man endlich nach eigenen Regeln spielen will. Stimmt´s?“
Ich nickte lächelnd. Er hob seine Augenbrauen, klopfte mit zwei Fingern den im Takt der Musik auf das Lenkrad und spürte dem nächsten Gedanken nach.
„’Hungry Eyes’. Die Gegend hier, das ganze Havelland um Werder herum war damals ein einziger Obstgarten. Die Plantagen, meist Äpfel und Kirschen, schienen ins Unendliche wachsen zu wollen. Du wirst das bestimmt nicht mehr kennen, warst ja noch ein Kind und bist nicht weit aus deiner Stadt herausgekommen. Oder? Na, heute ist jedenfalls vieles abgeholzt und man kann es sich nur noch schwer vorstellen. Im Frühling ein weißes Blütenmeer. Auch hier, die Hänge hinauf bis an den Waldrand und auf der anderen Seite bis hinunter an die Autobahn. Hubschrauber dröhnten über die Reihen, so niedrig, dass ihre Kufen fast die Baumkronen streiften, und versprühten Nebelschwaden aus Chemie. Bei späten Nachtfrösten beregneten zahllose Wasserkanonen mit riesigen Fontänen die kahlen Bäume. Ich fand es immer seltsam. Eis gegen den Frost. Wie ein Tanz, ein Ballett war das, wenn sich die Bögen aus Wasser langsam im Kreis drehten und in der Nähe konnte man sogar den Takt dazu schlagen hören.“
Er kniff die Lider zusammen, als wolle er damit die Schärfe seines Gedankenbildes regulieren.
„Seinerzeit hätte ich ‚Hungry Eyes’ als ‚ungarische Augen’ übersetzt. Zum Scherz natürlich. Solch krumme Wortdeutungen waren damals ein beliebtes Spiel, fast schon eine Manie. Und ‚ungarische Augen’ lag nahe, denn in der Erntezeit kamen viele ausländische Studenten. In unsere Gegend besonders aus Ungarn. Dafür wurden, auch hier ganz in der Nähe, alte Ställe zu Unterkünften ausgebaut, und es entstanden Sommerlager, die von Erntehelfern bevölkert wurden. Sie blieben jeweils nur kurze Zeit, um nach ihrem Arbeitseinsatz irgendwo noch eine Woche Urlaub zu machen und dann in ihr Land zurückzukehren. Logischerweise hatten diese Sommerlager für uns eine magische Anziehungskraft. Ein Hauch der weiten Welt kam in die Dörfer. Es gab einen regelrechten Wettbewerb im Knüpfen von Kontakten. - Warte mal, da fällt mir was ein. Szeretlek! Das heißt: Ich liebe Dich. Ist das nicht, irre, dass ich das nicht vergessen habe! Szeretlek! Das ist ein Ding, nein wirklich. Weißt du, die Mädchen, in unserer Klasse damals, machten sich endlose Listen mit ungarischen Wendungen. Sie waren immer gleich unsterblich verliebt, alle zwei Wochen neu. Ich glaube nicht, dass sie auf einem Klassentreffen daran erinnert werden möchten.“
Er schmunzelte. Seine Augenwinkel legten sich in fröhliche Falten.
„In den Sommerferien verdienten wir uns immer ein paar Mark, natürlich bei der Kirschernte. Ich hatte das Glück, auf dem Anhänger eines Traktors durch die schmalen Alleen zu tuckern und die gefüllten Körbe zu stapeln. Die Baumreihen waren niedrig. Ich konnte bequem über sie hinweg nach den verstreuten Grüppchen bunter Jacken Ausschau halten. Ich liebte es, wie auf einem Podest durch sie hindurch zu fahren, von allen Seiten die Fracht entgegenzunehmen und dabei zu flirten und Spaß zu haben. Ganz unkompliziert lernte man sich kennen. Nach der Arbeit ging es dann auf kürzestem Weg zum Sommerlager, wo wir alle am Volleyballfeld zusammenströmten und uns mit Händen und Füßen unterhielten. Wir konnten natürlich kein Ungarisch und jedes nachgeplapperte Wort war für uns ein Zungenbrecher.“
Er zögerte einen Augenblick, führte eine Hand an die Schläfe und massierte sie mit den Fingerspitzen.
„Ja. Eine Gruppe Erntehelfer blieb mir besonders in Erinnerung. Sie bestand überwiegend aus Studentinnen. Alle waren nicht viel älter als wir damals, ich vermute mal erstes Studienjahr. Gleich am Tag nach ihrer Ankunft entdeckte ich sie, die ungarischen Augen. Sie kamen zwischen den Zweigen hervor und machten mich sprachlos. Samtbraune, offene Tore, die keine Regung verbergen konnten. Neugier, Freude und Staunen sprangen dir direkt entgegen. Ich weiß noch genau, dass es befangen machte, ihrem Blick standzuhalten. Ach schade, ich habe vergessen wie sie hieß. Aber ihre Augen sehe ich noch wie heute vor mir. Sie raubten mir den Schlaf, genauso wie ihr verblüffendes Lächeln, dessen Wärmende noch da zu sein schien, wenn sie schon längst weiter gegangen war. Verstehst du, was ich meine? Am ersten Abend wartete ich ungeduldig am allgemeinen Treffpunkt hinter dem Sommerlager, bis auch sie endlich aus dem Haus kam. Eifersüchtig musterte ich jeden, der mit ihr sprach. Und dann grüßte sie mich! Wenige Meter von mir entfernt hob sie den Arm und deutete ein Winken an. Doch sie ging an mir vorbei und setzte sich zu einer Gruppe, die sich um einen gitarrespielenden Typen versammelt hatte. Ich gesellte mich enttäuscht dazu. In dieser Runde wusste ich mir keinen Rat, wie ich mich ihr nähern sollte. Wenigstens in Sichtweite wollte ich bleiben und bezog wechselnde Posten im Außenbereich des lockeren Kreises. Noch ehe es mir zweimal gelang ihren Blick einzufangen, war der Abend vorüber. - Am folgenden Tag flirteten wir während der Arbeit. Genauer gesagt, sie mit mir, und ich schwebte geradezu über mein rollendes Podest und balzte um ihre Aufmerksamkeit. Als Herr über die Ladefläche und einen Meter über dem Boden dahinziehend hielt ich mich für unwiderstehlich. Ich muss schon ziemlich trottelig gewirkt haben. Kannst du dir das vorstellen?“
Er blickte mich an und wartete meine Zustimmung ab. Ich nickte. Er nahm es zufrieden zur Kenntnis.
„An diesem Abend putzte ich mich besonders gründlich heraus, bevor ich mich auf mein Moped schwang und zum Treffpunkt fuhr. Ich war spät dran, der Volleyballplatz bereits gut gefüllt. Ich entdeckte auch ihr Gesicht und entschied mich für eine sportliche Bremsung. So mit seitlichem Schwung des Hinterrades, wie man das eben immer macht, wenn man auffallen muss. Es gab auch eine schöne Bremsspur und eine ansehnliche Staubwolke. Aber ich hatte den Rollsplitt auf dem Weg unterschätzt und so kam ich richtig spektakulär zum Liegen. Na, das Gelächter kannst du dir ausmalen. Als ich die Karre gerade wieder aufgerichtet hatte, waren die ungarischen Augen plötzlich neben mir. Alles unter Kontrolle, gab ich ihr zu verstehen und mein Puls geriet ans Limit. Sie drängte die Umstehenden zur Seite, sah meine ramponierten Jeans, beugte sich hinunter und griff nach meinem Knie. Ihre Hand an meinem Knie! Du kannst dir denken, dass mein Sturz sofort zur Nebensache wurde. Wer hätte das für möglich gehalten? Ich konzentrierte mich auf ihre Berührung, die mir wohlige Schauer über die Haut jagte. Doch schon im nächsten Augenblick richtete sie sich wieder auf. Sie sagte etwas. Ihr Gesicht war mir ganz nah und ich spürte ihren Atem, ihren Duft. Also glaub mir, ich dachte, ich werde gleich besinnungslos und hätte am liebsten nach ihr gegriffen, sie festgehalten, wenn nicht gleichzeitig auch die Sorge gewesen wäre, sie durch die kleinste falsche Bewegung zu verschrecken, wie ein Räuspern ein Reh von der Lichtung treibt. Und dann, pass auf, zerrte sie mich mit in das Haus, in ihr Zimmer, bis an ihr Bett. Ich verstand langsam, dass sie meine Verletzung inspizieren wollte. Mein Knie. Da war ich überfordert. Ich konnte doch keinesfalls die Hose herunter lassen, um ihr das Knie zu zeigen. Blöd, was? Ich war auf Schlag verklemmt und verschämt und fühlte mich in einen Hinterhalt gelockt. In diesem Raum mit vier Doppelstockbetten, zwei riesigen Fenstern und einer nur halb geschlossenen Tür! Ausgeschlossen. Sie hingegen schien es als die normalste Sache der Welt zu betrachten. Ich brauchte meine Zeit, bis ich meine Fantasie wieder unter Kontrolle gebracht und die einzige Alternative ausgemacht hatte. Ich mühte mich ab, das verdreckte Hosenbein bis über das Knie heraufzuziehen. Eine echte Prozedur bei engen Jeans, bis endlich die gewünschten Millimeter Haut unter dem Saum hervorquollen. Gerade einmal ein kleiner Kratzer war durch den Stoff gedrungen. Schade, nicht wahr? Gern hätte ich mich von ihr verarzten lassen. Doch dafür saß ich auf ihrem Bett, was schon für sich genommen einer Sensation gleich kam. Ich strich unbemerkt mit der Hand über ihr Kopfkissen und hielt das in diesem Augenblick für das Größte, was man im Leben erreichen kann. Ja, so war das.“
Er seufzte leise. Ich bemerkte seine schnellen Wimpernschläge.
„Als wir wieder heraus kamen, hörten wir von der Idee, in einem nahe gelegenen See baden zu gehen. Fünfzehn Minuten Fußmarsch. Doch ich hatte ja mein Moped dabei und natürlich, das wirst du dir denken können, versuchte ich sie einzuladen, mit mir zum See zu fahren. Sie willigte ein, holte ihre Sachen und es ging los. Es war unvergleichlich. Stell dir vor, dieses Mädchen legt die Hände an deine Hüften, rückt ganz dicht an dich heran, du spürst ihre Schenkel und ihre Brüste klopfen regelmäßig an deinem Rücken an. Es gibt nichts, was erotischer ist. Eine Flut beiläufiger, elektrisierender Impulse. Noch heute sträubt sich mir das Gefieder, wenn ich daran denke. Ja, das war eine Fahrt, nur viel zu kurz. Mit allen Sinnen lauschte ich auf jede ihrer Regungen und begrüßte freudig jede Bodenwelle. - Am See angekommen war es alles andere als lauschig. Wir stürzten uns ins bunte Treiben und hatten viel Spaß. Leider war es mir unmöglich, immer in ihrer Nähe zu bleiben. Ich bemühte mich sehr, wollte aber auch nicht aufdringlich erscheinen. Sie sah alles entschieden entkrampfter als ich und verschwand immer wieder zwischen ihren Freundinnen. Immerhin durfte ich sie auch zurück auf meinem Moped mitnehmen und als Krönung dieses Tages erntete ich zum Abschied einen Kuss auf die Wange. Frisch gepresst. Ich hatte nicht mit ihm gerechnet. Ihre Lippen trafen mich, als sie dabei war abzusteigen, sie sich mit ihrer Hand an meiner Schulter festhielt und ich ihr mein Gesicht halb zugewandt hatte. Ein kurzer Druck, von warmem Atem umströmt, und schon war sie im Haus verschwunden. Es war alles wie im Traum. Und wenn Jungfrauen träumen, muss die Welt sich in Acht nehmen.“
Er klatschte mit einer Hand auf sein Knie. Sein Gesicht strahlte vor spontaner Begeisterung.
„Tja, die nächsten Tage steckten voller Hoffnungen. Ich strengte mich an, immer und überall für sie präsent zu sein. Wir sahen uns am Volleyballplatz, beim Baden, sie war freundlich wie immer, doch so nah wie an diesem einen Tag kamen wir uns nie wieder. Ich schlich um sie herum, wir tauschten Blicke, ich hielt mich bereit, wartete, bot mich an und wurde still verzweifelt, denn bald würde sie fortgehen. Ich war so dumm. Verstehst du, ich begriff das Spiel nicht und dass ich den nächsten Zug hätte machen müssen. Statt dessen stand ich blöd in der Gegend herum und grübelte darüber nach, warum sie nicht zu mir herüber kam, sich neben mich setzte, mich noch einmal küsste. In meinen Tagträumen tat sie es. Ich resignierte und tat mir leid. Ich Einfaltspinsel blieb, wie bei der Ernte, auf meinem Podest und wartete, immer nach ihr Ausschau haltend, dass sie an die Ladekante herantrat und sich dann von mir heraufziehen ließe. - Ach, wenn man sich überlegt, was alles hätte werden können. „Hungry Eyes“. Sie ging und ich vergaß. Ich glaube fast, sie hat nicht einmal richtig bemerkt, wie sehr ich mich nach ihren ungarischen Augen verzehrte. Weißt du was? Ich hatte die hungrigen Augen!“
Ăśberrascht von seinem eigenen Gedanken schaute er mich an und lachte laut.
„So kann es einem gehen, nicht wahr? Noch im gleichen Jahr, im Herbst 1977, lernte meine spätere Frau mich kennen. Sie war keine Ungarin und das Sommerlager schon lange verwaist. Sie war eine Frau mit Initiative, mit einem klaren Plan von dem, was sie wollte. Kraftvoll wie ein Traktor. Aber das ist eine andere Geschichte.“
Er blinzelte sentimental.
„Hungry Eyes. Ja, so war das.“
Eine Minute schwiegen wir.
„Naja“, sagte ich dann, „aber Hungry Eyes ist doch aus Dirty Dancing. Der Film lief, glaube ich, erst 1987.“
Er blickte verdutzt. Ich bereute sofort jedes Wort.
„Ach was! Das kann aber nicht sein. Bist du sicher?“
„Ja, ziemlich.“
„Denkst du, meine Geschichte ist windschief? Nein, genau so war es. Könnte ich irgend etwas miteinander verquirlt haben? Nein, da gibt es keinen Zweifel. Hungry Eyes, das ist sie und dieser Sommer. – Warte! Wann sagst du kam das heraus?“
„1987. Zehn Jahre später.“
„1987. Genau. Na, das ist witzig. In dem Jahr haben wir uns scheiden lassen.“
„Aha.“
„Ja. Mensch, das ist verrückt. Als es mit uns kaputt ging, habe ich oft im Kino gesessen. Dort habe ich wohl meine verpassten Gelegenheiten sortiert. Viel, viel später. Viel zu spät.“
Er lachte. Ich mochte ihn.
Bald hatten wir die Stadtgrenze erreicht und ich bat ihn, an der nächsten Ecke anzuhalten. Ich stieg aus und wir waren wieder Fremde.
Als er weiterfuhr schaute ich ihm noch einen Moment nach und sah, wie er nur wenige Meter weiter sein Auto wendete und stadtauswärts zurückfuhr.
„Danke fürs Mitnehmen“, murmelte ich noch einmal vor mich hin.



(c) Lutz Schafstädt



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