Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Februar 2002
Zwischen den Jahren
von G. K. Nobelmann

Zwischen den Jahren

“Das dauert auch wieder ewig, was?”

Er versuchte, einen Blick in das weiße Gesicht zu erhaschen, aber sie hielt das Kinn gesenkt, den Blick fest auf der gefalteten Zeitung auf ihrem Schoß. Sein Lächeln ging ins Leere, verschluckt von der Dunkelheit jenseits der Wartestelle. Der Wind heulte um die Ecken des Unterstands und ließ den Pfosten vor der Hütte vibrieren. Der Mann zog die Mantelärmel über die Handgelenke, das Metall der Armbanduhr kühl auf der Haut; er widerstand dem Drang, erneut auf das Zifferblatt zu sehen. Dem Plan nach hätte der Bus vor zehn Minuten hier sein müssen.
Der Mann rieb sich die kalten Hände. “Ungemütlich”, sagte er zu niemandem im besonderen. Das Mädchen schien ihn heimlich zu mustern, tief aus dem Augenwinkel, ohne den Kopf zu bewegen, und er sah sich selbst, einen frierenden alten Mann in zu dünnen Sachen, der den Mund nicht halten konnte. Er hätte sich gern für distinguiert gehalten, einen nicht unamüsanten älteren Herrn, aber er war müde, und er sah sich, wie er war – zu freundlich, zu geschwätzig, und vielleicht ein bißchen zu einsam. Bestimmt hielt sie ihn für einen aufdringlichen alten Knacker. Er in ihrem Alter hätte die Aufmerksamkeiten einer plappernden Großmutter als genauso fehlplaziert empfunden.
Er versuchte sich vorzustellen, wie sie nach Hause kam und ihrer Mutter von dem spinnerten Opa am Bus erzählte, oder nein, bestimmt rief sie ihre Freundinnen an; einen Freund konnte sie nicht haben, oder?, dafür war sie zu jung. Fünfzehn mochte sie sein, oder sechzehn, es ließ sich schlecht sagen. Möglicherweise jünger. Aber was tat ein Kind um diese Zeit allein an der Bushaltestelle? Paßte niemand auf sie auf? Wartete niemand auf sie?
Er pfiff seine Gedanken zurück; Gott, er war aufdringlich, was ging es ihn an? Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die stille Straße vor ihnen, der Asphalt frostglitzernd, über den Häuserdächern ein paar versprenkelte Sterne. Viertel nach sieben, und die Straße ausgestorben wie um Mitternacht. Kaum ein Licht hinter den Fenstern. Zwischen den Jahren, dachte er, und: Viele fahren weg in dieser Zeit, ins Warme, und wie schön das sein mußte, mitten im Winter über einen sonnenwarmen Strand zu flanieren. Dann stellte er fest, daß die jungen Menschen seiner Vorstellung von Vespas stiegen und Caprihosen trugen. Ich bin auch zwischen den Jahren, ging ihm durch den Sinn, oder vielleicht hinter den Jahren; immer ein paar Jahrzehnte hinterher. Komisch, daß die Erinnerungen nicht alterten. In ihm immer noch die Welt, in der er großgeworden war, die Welt hübscher junger Mädchen, die keinen Tattergreis in ihm sahen. Unruhig rutschte er auf der Bank herum. Das Mädchen mit der Zeitung wandte leicht den Kopf ab. Der Mann sah auf die Uhr.
“Heute ist doch Donnerstag, oder?”
Es hatte ein Scherz sein sollen (Herrgott, er war vielleicht alt, aber nicht wirr), aber sein Lächeln verwelkte, als er den Ausdruck in ihren Augen sah. Dunkle Augen, in einem weißen Gesicht. Ihre Lippen blieben blaß und gerade. Sie nickte. Immerhin sah sie ihn jetzt an; und er versuchte, das als Erfolg zu werten, während er um die Reste seines Lächelns rang.
Gott, sie war so jung.
Er öffnete den Mund, im selben Moment, in dem er sich in Gedanken sagen hörte: Sie sollten nicht so ganz allein hier sitzen. “Frohe Weihnachten”, meinte er lauter, als er vorgehabt hatte, und seine Hände umklammerten sich. Das Mädchen lächelte langsam und nickte.
“Ihnen auch.”
Das Licht der Straßenlaterne fiel in einem matten Halbkreis über ihre Beine; nicht zum erstenmal dachte der Mann, daß sie frieren mußte in ihren dünnen Strümpfen, den hackigen Schuhen. Der Saum des Rocks erreichte ihre Knie nicht. Sie trug einen Wollmantel in Flaschengrün, mit großen runden Knöpfen und spitzem Kragen. Keinen Schal, aber auf dem Kopf eine rote Strickmütze, unter der dunkle Locken hervorsahen. Ihre Hände lagen auf der Zeitung.
“Ach, wissen Sie...” Er zuckte die Achseln, im vollen Wissen, daß er mehr sagte, als sie hören wollte, und konnte sich doch nicht zurückhalten. “Wenn man alt wird, verliert das alles an Bedeutung. Jedenfalls, wenn man keine Familie hat.” Er zwinkerte ihr zu, als teilten sie einen Scherz. Sie sollte nicht denken, daß er sich leidtat. “Ein Tag wie der andere.”
Sie musterte ihn ernst; dann, zu seiner Erleichterung, ein Lächeln. “Man wartet auf den Bus. Wie immer.”
“Genau.” Er mußte lachen. “Ganz genau.” Er zog die Hand aus dem Ärmel und streckte sie ihr hin. “Ich heiße übrigens Georg.”
Das Mädchen hob lediglich die Schultern, nicht ablehnend, aber deutlich. “Verena.”
Er tat, als hätte er nur den Mantelärmel hochstreifen wollen, und beugte sich vor, um das Licht der Laterne einzufangen. Der Zeiger seiner Uhr kroch einen weiteren Millimeter vorwärts, und noch einen. “Fast zwanzig Minuten! Und das bei diesen Temperaturen.” Er verkroch sich wieder in der zweifelhaften Wärme seines Mantels. “Ist Ihnen gar nicht kalt, Verena?”
Erneutes Achselzucken; ihre Finger raschelten mit den Zeitungsseiten. “Man gewöhnt sich”, meinte sie in einem Tonfall, den man als Hochmut hätte auslegen können; augenblicklich kam sie ihm noch jünger vor. Er unterdrückte ein Lächeln.
“Sie sind jung und fit”, sagte er. “Meine Großmutter pflegte zu sagen, im Alter fließt das Blut langsamer. Deswegen friert man leichter. Damals habe ich darüber gelacht, aber jetzt...”
Er hob die Hände in einer selbstironischen Geste, um ihr zu zeigen, daß er nur Spaß machte, aber sie musterte ihn nur aus ihren dunklen Augen, und er kam sich unreif vor, albern.
“Wie ist das so”, fragte sie nach einer Weile, “wenn man alt ist?”
“Ach”, er lachte, immer noch bemüht, geistreich zu erscheinen, witzig, der amüsante ältere Herr, “wissen Sie, das sagt einem vorher niemand, aber man wird nicht alt.” Er beugte sich etwas zu ihr vor, den Hauch einer Bewegung nur; als tausche er ein Geheimnis mit ihr, diesem ernthaften jungen Ding mit seinen Erwachsenenschuhen und den Schatten in den Augen. “Es sieht nur so aus. Außen, meine ich. Innen bin ich immer noch wie Sie. Jung, und beweglich. Fröhlich. Warm. Die Welt außen ändert sich vielleicht, aber innen...” Er strich sich mit einer Hand über die Brust. “Innen bleibt alles gleich. Innen bleibt man irgendwann stehen. Man kommt zu einem Punkt, wo man...”
Perfekt ist, hatte er sagen wollen, aber es kam ihm großspurig vor, und er war nicht perfekt; fertig beschrieb es ebenfalls nicht. Seine Hände öffneten und schlossen sich, während er nach den Worten suchte, die es nicht gab. Und das Mädchen saß neben ihm und sah ihn an. Georg lächelte schief.
“Hören Sie nur; ich klinge wie ein seniler alter Idiot. Die Weisheit des Alters; von wegen. Was ich sagen wollte, war, irgendwann verändert man sich nicht mehr. Die Welt macht ohne einen weiter, und man selbst bleibt in seiner eigenen kleinen Nische und sieht zu. Fast so...” Er sah sich um, als hätte er das schäbige Wartehäuschen völlig vergessen. “Fast so wie wir hier.”
Verena lächelte. Er konnte ihre Augen nicht sehen, da war nur ein vages Glänzen; sie hatte den Rücken gegen die Wand gelehnt, den Oberkörper im Schatten. Die Kälte begann in ihm hochzukriechen, sickerte in seine Knochen, und er überlegte, ob es Sinn hatte, länger zu warten – es waren nur zwei Haltestellen, lächerlich eigentlich, zu Fuß konnte er in zwanzig Minuten zu Hause sein, und Allmächtiger, er saß bestimmt schon fast eine halbe Stunde hier. Aber das Mädchen, Verena; er konnte sie doch nicht einfach hier sitzenlassen, allein.
“Sie klingen wie ein Gespenst”, sagte Verena, und er meinte, Spott in ihrer Stimme zu hören. Wieder war es, als wäre sie die Reife, und er ein quasselnder, ahnungsloser Junge. Er konnte sich nicht länger vorstellen, wie sie mit ihren Freundinnen kicherte. Etwas an ihrer Antwort verunsicherte ihn; er wußte nicht, ob er ärgerlich werden sollte.
“Vielleicht”, sagte er und versuchte ein Lachen, “das kann sein.” Er wollte etwas hinzufügen über Schloßgespenster und Rasselketten und Spinnweben, aber es wäre der alberne alte Mann in ihm, der gesprochen hätte, und er verbat ihm das Wort. Das Mädchen schlug die Beine übereinander; der Fuß in dem klobigen Schuh wippte.
“Wohnen Sie schon lange hier?”
Die Frage ließ ihn stutzen, oder vielmehr der Tonfall, in dem sie gestellt worden war – frech, mit einem Unterton, der ihm Unbehagen einflößte. Als hätte sie versucht, mit ihm zu flirten. Ohne es zu merken, nahm er dieselbe Haltung ein wie sie – die Schulterblätter an der Wand, die Beine gekreuzt.
“Einunddreißig Jahre”, sagte er und, um Flapsigkeit bemüht: “Länger, als Sie auf der Welt sind.” Das Mädchen machte ein schnaubendes Geräusch, tief aus der Kehle. Die hellen Finger zupften an den Zeitungsseiten.
“Der Bus kommt gleich”, sagte sie, das Gesicht in die Dunkelheit gerichtet. Ihre Stimme hatte sich verändert; jeder Funken Spott war daraus verschwunden. Ihr Ton ließ ihn an die fernen Sternsprinkel denken; an die Schatten hinter den Fenstern. Georg sah auf die Straße hinaus, aber nirgendwo der Doppelkegel von Scheinwerfern. Mit kalten Fingern rieb er sich den Nacken.
“Haben Sie’s noch weit?”
Er dachte an ihre Mutter, an eine warme Küche, wo das Abendessen für sie bereit stand, aber das Bild war zu einem blassen Schemen geworden, eine Fata Morgana in einer Winternacht. Neben ihm schüttelte das Mädchen den Kopf. “Ich bin schon da”, sagte sie.
Georg wandte den Kopf, im selben Moment, in dem von weit her das Grollen eines schweren Dieselmotors kam. Licht wusch durch die Wartehütte, und er hatte Zeit, ihr Gesicht zu erkennen, die gebrochenen Linien ihres Umrisses unter dem leuchtendgrünen Mantel, die flüssigen Schatten hinter ihren Lippen. Eine Kälte tiefer als die Nacht erfüllte ihn. Er kam auf die Beine. Verena hob eine Hand, wie zum Abschied, und eine schreckliche traumhafte Sekunde hatte er Zeit, das Titelblatt der Zeitung auf ihrem Schoß zu lesen, das Datum unter der Titelzeile; das Datum des heutigen Tages, gefolgt von dem Jahr 1975.
Er stieg die steilen Stufen hoch in die stickige Wärme des Busses und ließ sich in den Sitz fallen, die Arme vor sich verschränkt; und sein letzter Blick zurück galt der leeren Bank des Wartehäuschens.

(c) G.K. Nobelmann



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